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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Aber man muß das erlebt haben, das Schauerliche ist da noch nicht von den Gänsefüßchen der Kultur geschwächt. Diese Stadt . . . wenn ich bisweilen den Atlas aufschlage und ich sehe sie unter einem gewissen Längen- und Breitengrad geographisch fixiert, am Südufer eines gewissen, ungeheuern Sees, ungeheuer wie alles in dem Land, das Wasser weißlich wie verdünnte Milch, wenn ich sie da sehe, als Zeichen bloß, ergreift mich ein grauendes Staunen. Sie existiert also wirklich, sag ich mir, als ich dort lebte, war mir die Wirklichkeit nicht so unumstößlich. Könnte die menschliche Seele, was in sie eindringt, so schnell aufnehmen, wie das Auge blickt und der Verstand faßt, niemand könnte das Jahr, in dem es geschieht, zu Ende leben, auch der Härteste nicht, und ich bin bei Gott hart genug. Es geht mir mancherlei durch den Sinn; wenn ich's festhalten will, hat es nicht mehr Stoff als Fieberträume, da sind ein paar Vorkommnisse, von denen muß ich reden, weil . . . nun, wie heißt's im Shakespeare: Des Himmels Antlitz glüht, ja, dieser Weltbau zeigt mit Trauermienen wie vor dem Jüngsten Tag Trübsinn bei solchem Werk . . . Trübsinn? Na, ich weiß nicht. Man wird um- und umgestülpt. Es ist furchtbar interessant. Ein Bilderbuch, so rar wie nervenzerrüttend. Doch da ist vorerst was Hübsches. Präludium. Ich geh eines Morgens durch die Gassen der Lagerhäuser, die Ohren zerhämmert vom Lärm, Maschinen und Menschen toben, kreischen, rasen, da vernehm ich sonderbare Laute. Vogelgesang? denk ich erstaunt, in der Schmutz- und Eisenhölle Vogelgesang? woher die Vögel? wieso kann ich sie hören? Ich trete in eine Art Verschlag, frag einen Schwarzen, er weist mich grinsend weiter, vor mir eine Mauer von Käfigen, dreißigtausend Kanarienvögel, eben ausgeladen, singen aus dreißigtausend winzigen Kehlen, ein Orchester, ein Monsterkonzert, das Krane, Autos, Lokomotiven, Menschengeschrei unsinnig-lieblich übertönt. Ich stehe da und weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll, es ist so verrückt, so heilig, so märchenhaft. Well, blättern wir um. Ein Sommernachmittag; lungenausdörrende Hitze; die Wandelgänge der Stockyards. Der Himmel eigentümlich gelbrot, die Luft klebrig, zum Schneiden dick. Die kilometerlangen Gänge, hölzerne Tunnels, Labyrinthe von Tunnels laufen über die Straße hin, die Todesbrücken für das Schlachtvieh. Dumpfes Gedröhn, Ochsen und Kälber in unendlichen Zügen, ruhiges, schicksalsvolles Stampfen. An einer bestimmten Stelle wuchtet der Hammer auf sie herunter, in einer Minute sterben hundert und stürzen in den Schacht. Bedrängte Gegenwart, so dicht beim Sterben zahlloser Kreatur, ich seh sie schreiten, schiebend geschoben, die Hälse der hinteren auf die Flanken der vorderen gelegt, vom Morgen bis zum Abend, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mit großen, braunen, ahnungsvoll-verwunderten Augen, das klagende Gemuh erschüttert die Atmosphäre, vielleicht erbeben die unsichtbaren Sterne davon, die Pfeiler zittern von den starken Körpern, aus den riesigen Hallen und Speichern schwelt der süßliche Blutdunst auf, ständiges Blutgewölk brütet über der ganzen Stadt, die Kleider der Menschen riechen nach Blut, ihre Betten, ihre Kirchen, ihre Stuben, nach Blut schmecken ihre Speisen, ihre Weine, ihre Küsse. Es ist alles so massenhaft, so unerträglich hunderttausendfach, der einzelne hat fast keinen Namen mehr, das einzelne nichts Unterscheidendes. Numerierte Straßen, warum nicht numerierte Menschen, etwa nach der Zahl der Dollar, die sie verdienen, mit Blut von Vieh, mit der Seele der Welt. Ein anderes Blatt. Herbstnacht, toller Sturm und Regen. Da ist eine Straße, die Halstedstraße, in deren Nähe wohnte ich, dreißig Meilen lang, trostlos lang, so lang wie das Elend und der Jammer, die sie beherbergt, sie nennen sie die längste Straße der Welt, und das ist sie, der neue Weg nach Golgatha. Da gibt es Häuser, die nur aus Unrat zu bestehen scheinen – man muß den Unrat vor den Türen verbrennen, damit man nicht drin erstickt – da gibt es düster-schmierige Winkel mit ruinenhaften Baracken, in denen acht Dutzend Familien in einem Dutzend Löcher hausen, so daß das gepferchte Leben zu den Fenstern herausquillt und Weiber und Männer und Säuglinge in heißen Nächten auf den eisernen Balkonen wie die Heringe übereinanderliegen; da sind Basare, worin aller Schund verkauft wird, den dieser verknotete Menschenheerwurm für seinen Schrecktraum von Dasein zu brauchen sich

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