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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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noch, jetzt plag ich mich sechs Wochen mit dem bösen Teufel und bin so klug wie zuvor, nichts, nichts, was soll da werden, wenn ich krank bin, das gibt's einfach nicht, ich verlier zuviel Zeit, warum ist denn die Anna Jahn mit ihm nach Frankreich gereist, das ist doch nicht mit rechten Dingen zugegangen, da ist er drüber wegvoltigiert, es ist das Allergeheimnisvollste an der Geschichte, was tu ich nur, am besten, ich warte jetzt, bis er herkommt, nicht rühren, es wird ihm leid tun, er wird kommen, dann bin ich im Vorteil. Er hatte eine Vision, sein kochendes Hirn gebar ein sonderbares Wahrgesicht, denn alles traf später ein, er sah Warschauer hier in der Kammer mit seinem Tambourschritt auf und ab marschieren und dann . . . redete er dann von der »Sache«? So weit ging aber das Hellsehen und Hellhören nicht, da wagte der Wunsch nicht mehr, Wirklichkeit zu spielen, warum, friert ihn denn so . . . ein Glück, daß es schon Juni ist, da braucht man nicht zu heizen . . .
    Aus dem Nebenraum drang die glasharte Stimme Melittas herein. Er lauschte. Sie dürfen nicht merken, daß ich krank bin, dachte er, sonst schaffen sie mich am Ende ins Spital, dort verlangt man Papiere, dann geht's mir dreckig. Was wird's schon sein? Halsentzündung, ich kann nicht ordentlich schlucken, morgen ist's vorüber. Um für den Fall, daß eine der Schneevogtschen Damen hereinkam, einen möglichst unverdächtigen Eindruck zu machen, nahm er einen Band Ghisels von dem Wandbrett, das er neben seinem Bett angebracht hatte, und schlug ihn auf. Da hörte er die glasharte Stimme von nebenan verzweifelt sagen: »Solch 'ne Ungerechtigkeit, das ist ja himmelschreiend. Da möchte man ja auf die ganze menschliche Genossenschaft spucken. Da ist's ja besser, man nimmt 'nen Strick und hängt sich am nächsten Fensterkreuz auf.« Die Wand war so dünn, und die Tür schloß so schlecht, daß er jedes Wort vernahm, auch die ängstlichen Beschwichtigungsversuche der Mutter Schneevogt. Die Flurglocke läutete dazwischen, beide Frauen verließen den Raum, und es war ganz still. Da hat sie das Richtige gesagt, dachte Etzel, indem er mit weiten Augen und einem Gefühl drückender, uneingelöster Schuld in die Höhe schaute. Wie ist es denn wirklich möglich, daß man's aushält? Und jeder lebt weiter, auch die, die behaupten, sie können nicht weiterleben, und ich auch. Was ist es denn mit der Gerechtigkeit? Gibt's denn eigentlich Gerechtigkeit? Bildet man sich's nicht bloß ein? So wie sich die Frommen das Paradies einbilden? Vielleicht ist unsere Vernunft nicht imstande, sie zu erkennen, vielleicht liegt sie außerhalb unseres Begriffsvermögens. Aber dann wäre ja alles, was man tut, so vorläufig, und alles, was man erreicht, so unsinnig, es muß es, muß es, muß doch einen Ausgleich geben, achtzehn Jahre und neun Monate jetzt, du großer Gott, es muß es, muß es, muß doch . . . was? was, Etzel? du stellst ein ehernes Muß auf in deiner sechzehnjährigen Rebellenseele, aber von welcher Macht auf Erden oder im Himmel wird es approbiert? Er schloß die Augen, da erschien Joshua Cooper mit dem Blutfaden von der Stirn bis zum Kinn wie ein Sinnbild der Hoffnungslosigkeit. Ein kühler Schauder überrann ihn, er griff nach dem Buch, das er noch geöffnet in der Hand hielt, und las auf der aufgeschlagenen Seite folgende Zeilen: Auch auf dem vollsten Glas schwimmt noch das Blütenblatt einer Rose, und auf dem Blütenblatt haben zehntausend Engel Platz.
    Welch ein Wort! Wie ein Stern. Er kannte es, aber er hatte es früher nicht erfassen können, jetzt, nach allem, was er erlebt, leuchtet es sternenhaft auf. Zu dem Manne, der das niedergeschrieben hat, muß er gehen, auf der Stelle, noch in derselben Stunde. Da gibt es kein Zaudern und Bedenken mehr, wenn einer auf der Welt existiert, der Antwort auf die eine Frage weiß, dann ist es der Mann, der das geschrieben hat. Fieber, was Fieber, darum kann man sich nicht kümmern. Es ist vier Uhr nachmittags, eine Stunde muß er für den Weg zum Westend rechnen, die Tageszeit ist nicht ungünstig, um jemand zu Hause zu treffen. Vielleicht fügt es das Glück, daß Ghisels nicht verreist ist und ihn empfängt. Trotz der Mattigkeit in den Gliedern und der Schmerzen im Schlund kroch Etzel aus seinem Bett, wusch Gesicht und Brust, schlüpfte in die Kleider und verließ Stube und Haus.
    6

    Er fuhr mit dem Lift in den vierten Stock eines isoliert stehenden Gebäudes und läutete an einer von zwei Wohnungstüren. Nach ziemlich

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