Der Fall Maurizius
heraufkommen sah, hatte ich nichts zu geben. Da hieß es denn: sich in Sicherheit bringen. Da hieß es, nach einem Plätzchen auslugen, wo man ungefähr in der Mitte war zwischen den zwei rasenden Brandherden links und rechts. Ein Tuskulum konnte es nicht sein, höchstens ein versteckter Beobachterposten mit einem mitgenommenen Glutrest von der großen Oriflamme der Vergangenheiten. Welcher Sturm wird ihn ausblasen, den traurigen Rest, der Sturm von links oder der von rechts, der von Ost oder der von West? Was glauben Sie, Mohl? Denn in dem Jahrzehnt meiner Selbstflucht und Weltsuche hat ja der verschlafene Muschik da hinten die Glieder geregt, hei, Pöbelauflauf in dem ganzen Raum zwischen Weichsel und Baikalsee, man kann sich auf was gefaßt machen, die braven Leute hier, die noch bis über die Ohren in ihren Velleitäten stecken, haben keinen Dunst von dem, was ihnen bevorsteht. Sie träumen von einer Erbschaft der Knute, die sie antreten können, unterdessen lassen sie sich musikalisch entzückt von ihren Grammophonen die Klagegesänge von anno dazumal vorplärren: ei uchnemj . . . kennen Sie das, Mohl? Lied der Schiffszieher an der Wolga . . . ein Alarm sondergleichen, und sie erbauen sich dran wie an einem frommen Choral . . . haben Sie's nie gehört?«
Er stand auf, breitete beide Arme waagrecht aus, marschierte mit dem Trommlerschritt auf und ab und sang mit erschreckend mächtiger Stimme: »Ei uchnemj . . . ei uchnemj . . . eschtsche razikj . . . eschtsche dararj . . . ei uchnemj . . .«
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Etzel hatte sich gleichfalls erhoben und stand da wie ausgelöscht. Die eine Wange, auf die die Hand gestützt gewesen, war flammend rot, die andere blaß. Er hatte den Fingerknöchel in den Mund geschoben und biß ihn wund. In seinen heißen Augen malten sich Furcht und äußerste Ratlosigkeit. Herrgott, Herrgott, dachte er mit stockendem Herzen, das ist ja, als wäre man bis jetzt im Wickelkissen gelegen. Man muß sich die Ohren zuhalten, man kann nicht mehr zuhören, man muß die Augen abwenden, man kann nicht mehr hinsehen, der feiste Mensch mit dem gewaltigen Körper trampelt einen tot, alles ist überlebensgroß an ihm, Polyphem, der mit Felsblöcken um sich schmeißt. Wie soll man ihn fassen, wie zurückbringen zu dem Einen, um dessentwillen man gekommen, um dessentwillen man das alles auf sich genommen, alles dies, wovon man in seiner Erbärmlichkeit doch keine Ahnung gehabt hat . . . Es ist Etzel zumut, als renne er mit einem Schubkarren hinter einem Expreßzug her. Seine Hoffnungen sind auf Null zusammengeschrumpft. Wie soll seine arme Rede sich durchsetzen gegen diesen Wortkatarakt, was soll er mit seiner Unwissenheit und seinen sechzehn Jahren gegen dies weltumspannende Hirn? Was bedeutet dem der Gefangene im Zuchthaus, was sind ihm die sechstausendundsoundsoviel Tage und sechstausendundsoundsoviel Nächte unschuldig erlittener Kerkerhaft? Und noch ein Tag und noch eine Nacht, heut wieder eine Nacht, aber was schiert es ihn, er hat anderes erlebt, er weiß von andern Greueln, alles ist von ihm abgeronnen wie Wasser von einer Ölhaut, was schiert ihn des einen Unglück, des andern Schuld, er hat sich ein System der Gerechtigkeit gezimmert, bei dem der einzelne Mensch nicht mehr mitspielt, ad usum delphini vermutlich. Man war schon so nah, eine Frage vielleicht noch, und man hatte das Geheimnis ergründet, bitte, einen Augenblick, hätte man einwerfen müssen, wie war das mit dem Gott aus der Maschine? Statt dessen hatte er einen weitergeschleift mit seinem verfluchten Waremme-Warschauer-Problem, und man war der Belämmerte und biß sich den Knöchel blutig. Er nahm allen Mut zusammen, und als Warschauer mit seinem Gesang aufhörte, stellte er sich vor ihn hin und sagte: »Von Maurizius sind wir auf die Manier ganz weggekommen . . .« – »Ja, das sind wir, du widerwärtige Kröte«, entgegnete Warschauer zornig, »verschone mich mit deinen schleimigen Exkrementen.« – »Das glaub ich gern, daß Sie nichts mehr davon hören wollen«, fuhr Etzel erbittert fort, »aber die Kröte muß quaken, auch auf die Gefahr hin, daß sie vom Adler gefressen wird.« Warschauer verbeugte sich höhnisch. »Sehr schlagfertig«, mokierte er sich, »schlagfertige Kröte.« – Etzels Gesicht brannte, ein herausforderndes Lächeln trat auf seine Lippen. »Es läßt Ihnen ja selber keine Ruh«, sagte er. »Der Eid . . . denken Sie an den Eid, Professor . . . kann sein, Sie haben dran vergessen, ich glaub's nur nicht, es hat
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