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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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geläutet?« – »Ja, zweimal, gnädige Frau«, erwiderte Etzel und hatte das Gefühl, sich wegen seines albernen Dasitzens entschuldigen zu müssen. Die Frau öffnete. Draußen stand eine andere Frau, sehr jung noch, blühend jung, sehr hübsch, mit blitzenden Augen, mit einem frischen, übermütigen Mund. Was sich nun zutrug, war merkwürdig. Die beiden Frauen maßen einander stumm und feindselig. Die junge Frau draußen schien unangenehm berührt, die andere vor sich zu sehen. Es machte den Eindruck, als habe sie bestimmt damit gerechnet, sie nicht anzutreffen. Die Frau des Hauses reckte sich ein wenig empor, zuckte die Achseln, ließ ein kurzes, gurrendes, verächtliches Lachen hören und schlug die Tür wieder zu. Die Brutalität der Geste hatte bei ihrem scheuen, melancholischen Wesen etwas Erschreckendes. Dann stand sie da, mit gesenktem Kopf. Der blaue Seidenschal, den sie um die Schultern trug, war auf der einen Seite herabgeglitten, ohne daß sie es merkte. Es war, als habe sie für einige Minuten alles um sich vergessen. Ein unbeschreiblich tiefer Kummer malte sich in ihren Zügen. Sie glich einer steinernen Figur, in der die völlige Schmerzversunkenheit ausgedrückt ist. Plötzlich zuckte sie zusammen und ging mit schweren Schritten wieder in die Wohnung hinein. Nach Etzel schaute sie gar nicht mehr hin. Der saß geduckt auf seinem Stuhl mit einer Empfindung, als habe er sich an fremdem Eigentum vergriffen. Und einer noch peinvolleren: auch vor dieser Pforte machte das Schicksal nicht halt, auch über sie wälzte das Leben seine trüben Wogen, auch der hohe Mensch, der geschrieben hatte: Auf dem vollsten Glas schwimmt noch das Blütenblatt einer Rose, und auf dem Blütenblatt haben zehntausend Engel Platz, auch er war nicht verschont von den Verwirrungen des Tages, auch um ihn tobten Leidenschaften und wölkten Traurigkeiten, es lag nun alles ein wenig entblößt vor Etzels Augen, das priesterliche Heiligtum war eine Menschenbehausung geworden, und wie man mit geminderter Sicherheit über eine Brücke schreitet, von der man einen Pfeiler vermorscht weiß, auch wenn zugleich Lastfuhrwerke sie befahren, war ihm nunmehr der Sinn beengt, der Grund schwankend geworden. Indessen erschien der junge Mann wieder und forderte ihn freundlich auf, einzutreten.
    7

    Melchior Ghisels Haus war ein Zufluchtsort der geistig Bedrängten, der Ringenden, Aufstrebenden, Ratlosen, Gescheiterten und Verirrten. Man ging zu ihm wie zu einem großen Arzt, oft wurde seine Stube von Mittag bis Mitternacht von Besuchern nicht leer, Leuten jeden Alters, Männern und Frauen, Literaten, Künstlern, Schauspielern, Studenten, Emigranten, Politikern, so daß die nächsten Freunde und seine Frau sich bisweilen entschließen mußten, den Zudrang abzuwehren. Er war seit einigen Jahren ernstlich leidend und den Anstrengungen nicht mehr gewachsen. Alle hingen an seinen Lippen, breiteten die delikatesten Angelegenheiten ihres Lebens vor ihm aus, legten ihm ihre Gewissens-, ihre Berufskonflikte vor, wollten ihre Arbeiten von ihm beurteilt wissen, verstrickten ihn in weitgreifende Erörterungen über Probleme der Kunst, der Religion, der Philosophie, und es gab kaum einen, der sich nicht zum Schluß vor einem autoritativen Wort aus seinem Munde beugte. Es waren Personen darunter, die ihm in keiner Weise vertraut, ja nicht einmal lieb waren und deren seelische Nöte und wirtschaftliche Schwierigkeiten ihn durch Wochen, durch Monate intensiv beschäftigten. Dann verschwanden diese Personen spurlos, und er hörte gewöhnlich nie wieder etwas von ihnen. Er fühlte sich dadurch nicht enttäuscht, auch kam er sich nicht verraten oder hintergangen vor, wenn ein Mensch, dem er beigestanden, sich seinem Einfluß entzog oder ihm gar mit Undank lohnte. Auch dies bereicherte ihn. Nicht im Sinne der Erfahrung, sondern der Vermehrung einer außerordentlich tiefen Intuition des Lebens, die ihn mild machte, gleichsam gnädig, und vor allem in einem Maße verstehend, daß er manchmal durch Selbstwiderspruch unverständlich wurde. Er nahm an andern nichts leicht, nicht einmal die anspruchsvolle Hohlheit des Dilettanten, sogar sein Spott war noch gewissenhaft, wenn man so sagen kann. Was er selbst äußerte, hatte hingegen die Leichtigkeit, die nur der vollkommenen Beherrschung aller Mittel eigen ist, mit ihm zu sprechen war beglückend, eben weil es so leicht war. Was er mitteilte, schien er nur von sich los haben zu wollen, dadurch enthob er den Empfänger jeder

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