Der Fall Maurizius
Raff und gegen Robert Thielemann damit zurückgehalten hatte. Und wie er im Gespräch mit Thielemann das Verhältnis der Mutter als Paravent benutzt hatte, so schob er jetzt die Beziehung zum Vater vor. War es die zarte Scham vor der »Tat«, die in hochveranlagten Naturen oft abwehrend wirkt? Furcht, daß man ihm in die Hände fallen würde? Selbstbezweiflung, wegen der phantastischen Färbung, die sein Unterfangen in den Augen eines »Erfahrenen« haben konnte? (obwohl er längst so weit war, daß er sich aus sämtlicher Erfahrung der Erfahrenen nichts, aber auch nichts machte und die Überzeugung hatte, daß ein Melchior Ghisels sich nimmermehr zu ihrem Anwalt aufwerfen könne, er, der die Erfahrung das Monument auf einem Grab genannt hatte); war es eine Art Aberglauben, als hinge das Gelingen von seiner Verschwiegenheit ab? oder der geisterhafte Bann schließlich, in dem er durch die immer wiederkehrende Vision des Sträflings im Zuchthaus stand? Was es auch sein mochte, eines allein oder alles zusammen, es war stärker als Wille und Vorsatz und stärker als das grenzenlose Zutrauen, das er Melchior Ghisels entgegenbrachte. Dieser hatte ihm mit wachsendem Interesse gelauscht. »Sie sind sehr jung«, forschte er, halb fragend, da ihm Etzel noch jünger vorkam, als er war. »Bald siebzehn«, antwortete Etzel. Ghisels nickte. »Eine große Zahl Ihrer Altersgenossen lebt heute von der Anleihe bei der eigenen Zukunft«, sagte er und legte den Nacken in beide gefaltete Hände; »ich bin der letzte, es zu tadeln. Mit dem gegenwärtigen Tag sind wir alle schändlich dran. Aber das Vorwegnehmen hat unabsehbare Gefahren. Es erinnert mich immer ein wenig an die indischen Kinderheiraten. Diese Kinder sind mit zwanzig Jahren Ruinen.« Er machte eine Pause und fuhr tastend fort: »Sie scheinen mir durch ein sehr einschneidendes Erlebnis in Atem gehalten zu sein . . .« Etzel wurde feuerrot. Donnerwetter, dachte er erstaunt und erschrocken, der schaut aber wirklich in einen hinein. Jedoch Ghisels bewegte in einer Art die Hand, als bitte er den Knaben, seine Bemerkung nicht als Vorwitz oder Pression aufzufassen. »Lassen Sie nur, es soll nicht gelten, es soll nicht gesagt sein, ich sehe, ich habe da etwas zu respektieren. Was Sie zu mir führt, ist nichts Neues für mich. Leider. Es ist eine Krisis, die nicht mehr bloß harmlose Ringe im Teich wirft. Noch vor ein paar Jahren konnte man sich trösten und meinen, da ist dieses einzelne und dort ist jenes einzelne, man finde sich ab, mit dem einzelnen kann man sich abfinden, heute bedroht die Erschütterung das ganze Gebäude, das wir seit zweitausend Jahren aufgerichtet haben. Es regt sich eine tiefe, kranke Zerstörungslust in den empfindlichsten Teilen der Menschheit. Wenn dem nicht gesteuert werden kann, und ich fürchte, es ist bereits zu spät, muß es in den nächsten fünfzig Jahren zu einem ganz furchtbaren Zusammenbruch kommen, weit über die bisherigen Kriege und Revolutionen hinaus. Sonderbar, daß die Zerstörung so oft von denen ausgeht, die in dem Wahn leben, sie seien die Bewahrer der sogenannten heiligsten Güter. So ist es offenbar auch in Ihrem Fall, in dem Zerwürfnis mit Ihrem Vater. Ich habe häufig mit meinen Freunden darüber gesprochen. Die meisten geben der Politik die Schuld, dem, was heute Politik heißt, eine fressende Säure für alle menschlichen Bindungen. Ich habe es ja vielfach beobachtet. Ich habe auch ein andres Gleichnis dafür. Ein Ofen, in dem die Herzen unserer Jugend zu Schlacke verbrennen.« – Etzel, die Hände flach zwischen den Knien, beugte sich vor und entgegnete eifrig: »Ich verstehe, Sie sprechen von Politik als von der sozialen Disziplin überhaupt . . .« Ghisels lächelte. »Ja, oder der falschen, oder der fehlenden. Alles, was auf Gewaltordnung zielt . . .« – »Gewiß. Ich habe das immer gefühlt, ich konnte mich deshalb nie anpassen. Es wird immer nach der Gesinnung gefragt. Wer die gewünschte Gesinnung hat, darf dann auch niederträchtig handeln. Ich weiß nicht, ob ich per Wir reden darf. Ich möcht es nicht gern. Ich hab mal ein modernes Drama gesehn, wo ein Gymnasiast den ganzen Abend auf der Bühne Wir sagte, wir fordern das, wir denken so, wir gehn den oder den Weg . . . Es war recht lächerlich . . .« – »Ja«, warf Ghisels mit liebenswürdigem Sarkasmus ein, »es hat sich so herumgesprochen, als ob das hauptsächlichste Verdienst darin bestehe, zwanzig Jahre alt zu sein. Eine Hybris, an der wir Vierzig- und
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