Der Fall Maurizius
langem Warten erschien ein junger Mann mit schwarzer Hornbrille und einem klugen, netten Gesicht. Er hatte die Türen der Zimmer, aus denen er gekommen, hinter sich offen gelassen, und man hörte lebhaft sprechende Stimmen. In dem kleinen Vorraum hingen fünf oder sechs Hüte und Stöcke, auch ein Damenmantel. Au, dachte Etzel, und das Herz fiel ihm in die Hosen, da hast du Pech gehabt, Bruder Etzel. Der junge Mann erkundigte sich nach seinem Begehr. Mit schier unüberwindlicher Schüchternheit erwiderte Etzel, er möchte Herrn Ghisels sprechen (»Herr« Ghisels, die Zunge widerstrebte, so dumm und steif klang der »Herr«). Der junge Mann lächelte (das Lächeln bedeutete: das möchten viele) und fragte nach seinem Namen. Etzel sagte, er heiße Andergast, Etzel Andergast, er habe vor einem halben Jahr an Herrn Melchior Ghisels geschrieben, auch eine Antwort von ihm erhalten, möglicherweise erinnere sich Herr Ghisels noch daran. Zum erstenmal seit langer Zeit nannte er sich mit seinem richtigen Namen, er hatte natürlich nie beabsichtigt, an diesem geheiligten Ort mit einer Maske vor dem Gesicht aufzutreten. Aber es war doch ein eigentümliches Gefühl, plötzlich wieder er selbst zu sein, nicht als kehre er zu Vertrautem zurück, sondern eher als habe er einen nagelneuen Anzug am Leib und befinde sich nicht ganz wohl darin, etwas beengt eher. Der sympathische junge Mann wollte wissen, ob es ein bestimmtes Anliegen sei, das ihn herführe. Etzel schüttelte den Kopf. Das gerade nicht, entgegnete er, er sei schon zufrieden, wenn er Herrn Ghisels sehen, eine halbe Stunde in seiner Nähe, im selben Raum mit ihm sein könne, das würde genügen. (Du lügst, es würde nicht genügen, widersprach eine innere Stimme.) Wieder lächelte der junge Mann und betrachtete den wunderlichen Besucher nicht ohne Interesse. »Kommen Sie doch einstweilen hier herein«, sagte er, »ich will mal Herrn Ghisels fragen.« Etzel trat in das schmale Vorzimmer, während der junge Mann verschwand. Da seine Knie zitterten und ihm ein wenig schwindlig war, setzte er sich auf einen Stuhl, alles war lautlos an ihm, alles ehrfürchtige Erwartung, Angst, abgewiesen zu werden, Angst vor dem großen Augenblick. Wenn ein Schriftsteller (ich spreche von denen, die wie Ghisels neue Ideen in die Welt setzen und den Menschen neue Wege zeigen) ermessen könnte, was die Seele eines ergriffenen Jünglings bewegt, der sich, nicht ohne ernste, innere Kämpfe wegen dieses Schrittes bestanden zu haben, vor sein Angesicht wagt, er würde sein ganzes Ingenium zu Hilfe rufen, um für eine solche Begegnung gerüstet zu sein, und sein ganzes Herz außerdem. Aber nur wenige, die Allerseltensten nur, bleiben sich in dieser Weise treu, vielleicht geht es auch über das Vermögen der menschlichen Natur, immer zu sein, was man in der schaffenden Stunde ist. Daher rührte vielleicht auch ein Teil der Angst, die Etzel verspürte, die geistigste Angst, die es gibt: wie wird mein Bild sich mit seiner wirklichen Person vertragen? wie wird mir zumute sein, wenn ich das Haus wieder verlasse und ihn gesehen, seine Stimme gehört, seine Worte vernommen habe? Was wird er sagen oder tun, wie wird er sprechen und blicken, und was muß geschehen, damit er mir bleibt, was er mir ist? Mit jeder Sekunde wurde die Versuchung stärker, die Wiederkehr des jungen Mannes nicht abzuwarten und einfach auf und davon zu laufen, da konnte nichts passieren, da behielt man seinen Gott. Es dauerte so schrecklich lange. Er lauschte. Er vernahm eine eintönig hersagende Stimme. Sein Ohr war durch Fieber und Erregung so geschärft, daß er durch zwei Türen einzelne Worte verstand. Jemand las etwas vor. Es war klar, der junge Mann konnte den ungelegenen Besuch erst melden, wenn der Vorleser fertig war. Die elektrische Glocke an der Eingangstür schrillte. In den Zimmern schien man es nicht gehört zu haben. Die Glocke schrillte noch einmal. Etzel überlegte, ob er öffnen solle, er fand, daß er kein Recht dazu habe. Da kam durch eine andere Tür der Wohnung, als durch die der junge Mann verschwunden, eine Frau von achtunddreißig oder vierzig Jahren. Ihre Haltung und Miene verriet Etzel, daß es die Frau des Hauses war. Das Gesicht zeigte Spuren großer Schönheit, sah jedoch welk und müde aus. Etzel hatte niemals daran gedacht, daß hier auch eine »Frau« sein konnte, es überraschte ihn und vermehrte seine Unruhe. Die Frau stutzte, als sie den jungen Menschen gewahrte, und fragte: »Hat es nicht eben
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