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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Verpflichtung, wenn man einfach aufnahm, war man, so schien es, genau so tätig, beziehungsvoll schöpferisch, geistreich und wissend wie er selbst. Es war alles organisiert bei ihm, zusammengefaßt, vom Zentrum aus bedient, und zwischen geistigem und seelischem Bezirk klaffte nicht jene verzweifelte Leere, die es bewirkt, daß aus Legionen von erstaunlichen Begabungen nicht ein einziger, großer Mensch sich erhebt. So war er befähigt, allen Ereignissen, allem Persönlichen, jedem Werk und jedem Schicksal einen selbstgeschaffenen Sinn zu unterlegen, den er in seiner Existenz auflöste, um ihn über die Erkenntnis hinaus fruchttragend zu machen.
    Daß Etzel, halber Knabe noch, unreif, weltunerfahren, schon mit dem Erwachen seines Weltbewußtseins sich von einem solchen Manne magnetisch angezogen fühlte, dessen Art und Prägung ihm zudem nur durch Bücher vermittelt worden, spricht nicht zuletzt für einen auch in ihm vorhandenen Magnetismus, mag man ihn Instinkt oder Herzenskraft nennen. Freilich, der nämliche tiefe Instinkt hatte ihn mit jedem Schritt, der ihn dem verehrten Menschen näherbrachte, zaghafter und banger werden lassen. Der Zwischenfall mit den beiden Frauen war dann nur zur äußeren Figur des nagenden Zweifels geworden: ob es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, den höchsten, den weitesten nicht ausgenommen, von dem er erfahren konnte, was, wenn es nicht zu erfahren und sicherzustellen war, ihm das Leben gänzlich unwert machte.
    Er trat in ein geräumiges, mit schönen, alten Möbeln ausgestattetes Zimmer, und alsbald stand er vor Melchior Ghisels, einem etwa fünfzigjährigen Mann über Mittelgröße, wohlproportionierten Körpers, mit Bewegungen und Gesten von natürlicher Eleganz und Freiheit, mit glattrasiertem Gesicht, starker, energischer, gebogener Nase, tiefliegenden Augen, die einen ruhigen, durchdringenden, grübelnden, gütigen Blick hatten, einem schmalen, unvergleichlich ausdrucksvollen Mund, dessen Lippen im Schweigen fest, beinahe schmerzlich fest aufeinanderlagen, während sie beim Sprechen aussahen, als seien sie von der Natur, die die vorzüglich notwendigen Organe an ihren Geschöpfen oft hypertrophiert, dazu gebildet, Worte zu formen, und zwar bedeutende, seltene, nur diesem Mund eigentümliche Worte. Bizarr und fast unheimlich an dem edlen Kopf wirkten die großen, fleischigen, abstehenden Ohren. Aber wie der Mund zum Sprechen gemacht war, so schienen die Ohren, rote, weitschalige Muscheln, dazu dazusein, um zu hören, gut und genau und viel zu hören.
    Aufgefordert, Platz zu nehmen, setzte sich Etzel bescheiden und geräuschlos etwas außerhalb der Reihe der übrigen Besucher. Die Gesichter, in die er unbefangen blickte, gefielen ihm fast alle. Kein stumpfes darunter, kein vulgäres. Es waren vier junge Männer, ein weißhaariger Herr und ein junges Mädchen, das ebenfalls, seltsamerweise, ganz weiße Haare hatte. Ghisels hatte sich damit begnügt, den Ankömmling beim Namen zu nennen, andere Zeremonie unterließ er. Bisweilen streifte er ihn mit prüfendem, leicht verwundertem Blick, wobei er die dicken Brauen, die wie schwarze Wülste die Stirn begrenzten, ein wenig aufhob. Begonnenes Gespräch lief weiter. Etzel hörte nur die Stimme Melchior Ghisels. Er vernahm nicht, was die andern sagten, er faßte auch den Sinn von Ghisels Worten nicht auf, hatte nur einen vagen Eindruck von Geschliffenheit, mühelosem Fluß und anmutiger Form, er hörte nur die Stimme, und zwar mit solcher Inbrunst und Durstigkeit, daß er jedesmal, wenn die Stimme schwieg, unmerklich zusammenzuckte, um dann, mit einem hindrängenden Lauern, zu warten, bis sie wieder, sonor und alle übrigen Stimmen wie mit dunklem Flügel bedeckend, von neuem anhub. Es war eine sonderbare Freude, sonderbare Erlösung: in den wochenlangen, zerrüttenden Unterhaltungen mit Warschauer-Waremme hatte er sich unbewußt an dessen Stimme gewöhnt, wie man sich an eine tägliche Folter gewöhnen kann, schließlich war nur noch sie für ihn hörbar gewesen, mit andern Menschen hatte er kaum noch geredet, er hatte vergessen, wie eine Seelenstimme klingt, welche Echtheit und ruhvolle Schwingung sie hat. Es war ein Unterschied wie zwischen einem Goldstück und einem Stück Blei, wenn man sie auf einen Stein fallen läßt, damit sie ihre Beschaffenheit kundgeben sollen. »Sind Sie nicht wohl?« wandte sich plötzlich Ghisels an ihn. »Sie sehen sehr blaß aus, vielleicht darf ich Ihnen eine Stärkung anbieten, irgend etwas,

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