Der Fall Maurizius
sagen Sie es nur . . .« Etzel schüttelte den Kopf, dankte, die Worte taumelten durcheinander, er lächelte, das Lächeln schien Ghisels zu gefallen, er legte ihm einen Augenblick lang die Hand auf die Schulter. Etzel verstand, was damit bedeutet wurde: er möge ein wenig Geduld haben, man werde ihn nicht ungehört wieder gehen lassen. In der Tat brach die Gesellschaft bald hernach auf, das weißhaarige Mädchen und der junge Mann mit der Hornbrille blieben einige Minuten länger, Ghisels führte noch eine kurze, scherzende Konversation mit ihnen. Als sie sich endlich verabschiedet hatten, kam die Frau des Hauses herein und redete Ghisels sanft zu, sich aufs Sofa zu legen, er sah auch wirklich äußerst ermüdet aus, die Frau wartete, bis er lag, hüllte seine Beine in eine Kamelhaardecke und fragte, ob sie nicht das Fenster öffnen solle. Sie hatte eine wunderliche Art zu reden, sie entfernte kaum die Lippen voneinander, auch die Zähne kaum, es war alles so angestrengt, so leidensgeübt gleichsam, selbst der Gang und der Blick. Wieder hatte Etzel das Gefühl von wolkigen Traurigkeiten und einem Boden, der nicht verläßlich trug. »Ich falle Ihnen doch nicht zur Last . . .« stammelte er. »Seien Sie ohne Sorge«, sagte Ghisels und zu seiner Frau: »Ja, Liebste, mach das Fenster auf, es ist ein so schöner Abend.« Die Frau öffnete das Fenster und ging still hinaus. »Sehn Sie mal«, sagte Ghisels und wies gegen den westlichen Himmel. Etzel sah hin. Als ob dies Haus das allerletzte (oder das allererste) der ganzen Stadt sei, dehnte sich unter den Fenstern bis zum Horizont der gleichmäßige grüne Teppich der Kiefernkronen. Darüber hing ein bordeauxweinfarbener Himmel, über den in seiner ganzen Breite in gleichmäßigen Abständen purpurne und goldrote Strichwolken wie glühende Balken liefen. Während Etzel in einem eisernen Gefühl der Konzentration vorbereitete Gedanken sammelte und sie stockend zum Ausdruck zu bringen begann, verwandte Ghisels keinen Blick von dem tragisch-grandiosen Farbenspiel.
Mit wenigen Worten berührt Etzel sein Verhältnis zu Melchior Ghisels Werk. Um nicht anmaßend zu erscheinen, läßt er nur durchblicken, daß seine Stellung zu prinzipiellen Lebensfragen von den Schriften Ghisels' entscheidend beeinflußt worden ist. Er hat sich jedoch nicht mit der Reflexion begnügt, er ist einen Schritt weiter gegangen. Diesen Sinn hat er eben darin entdeckt: daß man einen Schritt weiter gehen muß. (Melchior Ghisels wird sichtlich aufmerksamer.) Die Sache ist die: Sein Vater ist ein hoher Gerichtsfunktionär. Zwischen ihm und dem Vater hat sich, seit etwa einem Jahr ist es akut geworden, ein unterirdischer Antagonismus entwickelt. Immer weniger und weniger hat er sich mit den allgemeinen Standpunkten, der Lebensauffassung, dem erstarrten Weltbild des Vaters, der im übrigen ein groß angelegter Mensch ist, in Einklang setzen können. Ja, er ist ein bedeutender Charakter, unbestechlich, lauter, und ein Mann von Bildung. Natürlich ist ihm, Etzel, von früher Jugend an vieles von der öffentlichen Wirksamkeit des Vaters zu Ohren gekommen. Schlimme Dinge, sehr schlimme bisweilen. Diese Dinge sind nach und nach zur unerträglichen Beunruhigung geworden. Alles ist wie auf den Kopf gestellt gewesen, das ganze Dasein im Hause, alles. Es herrscht in der Anschauung des Vaters von Recht und Gerechtigkeit etwas, das er nicht anders bezeichnen könne als mit dem Wort Verdorrung. Tote Tradition. Entseeltes Gesetz. (Er sprach plötzlich fließend und ergriffen.) Es hat Erörterungen gegeben, die Erörterungen haben zum Bruch geführt, er ist zu Verwandten geflüchtet, er hat sich von dem Druck einer Beziehung befreien müssen, in der keine Wahrhaftigkeit mehr war, solange er Vaters Brot ißt, steht er sozusagen in Vaters Dienst, vorläufig braucht er nichts weiter als Besinnung und Sammlung, auch Gelegenheit, sich umzutun. Man lese, höre, sehe so viel Verwirrendes, Quälendes, er hat in bezug auf Recht und Gerechtigkeit den Eindruck einer geistigen Seuche, einer allgemeinen Verfinsterung, wenn man jedoch über diese Materie nicht ins reine mit sich und der Welt kommt, ist es für einen jungen Menschen schlechterdings unmöglich, der Existenz eine Basis zu geben, und so hat er sich entschlossen, Herrn Ghisels um seinen Rat und seine Meinung zu bitten.
Der seltsame Junge! Auch hier, gewissermaßen vor seinem Meister, hielt er mit dem Tatsächlichen, dem Schicksalhaften zurück. So wie er gegen Camill
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