Der Fall Maurizius
Bundesgenossen, wundersame Kräfte spielten da mit, die mit vorgesetzter Absicht nichts gemein hatten. Deshalb das erlöste: So also ist er. Deshalb das Etzelsche Funkeln in den Augen.
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Gegen Abend ging sie aus und fuhr in die Stadt. Langsam durch die Gassen wandernd, litt sie unter dem beständigen Zwiespalt zwischen Heimatlichem und Feindlichem, die eine Erinnerung hell und melodisch, daneben die andere trüb und quälend. Die neubemalten, alten Häuser im Weichbild berührten sie wie etwas Lügnerisches, doch vor dem Römer blieb sie stehen und sah an der Fassade empor, wie man den Blick in ein ehrwürdiges Antlitz vertieft. Immer zu Boden schauend, als verfolge sie eine Spur, gelangte sie zum Kettenhofweg und vor das Andergastsche Haus. Ihre Augen irrten über die Fenster des zweiten Stocks, alle waren dunkel. Diese Dunkelheit gab Abwesenheit kund, Abwesenheit der zwei Menschen, die ihr Sinn so weit auseinanderhielt wie das Grauen und die Seligkeit und die sie so nah zusammenzudenken hatte, wie man Vater und Sohn zusammendenken muß. Könnte sie jetzt hinaufgehen und dem Mann gegenübertreten, den zur Rechenschaft zu ziehen sie gekommen ist, was für Worte würde sie sagen, was für ein Gericht würde sie halten, wenn es doch möglich wäre, jetzt, jetzt, in diesem erfüllten Augenblick, wo sie ihr geplündertes Leben wie in einem einzigen Atemzug begreift, wie würde er da vor ihr stehen, wenn sie ihm ins Gesicht schrie: Wo ist mein Kind? Gib mir meinen Sohn wieder –? Aber dieser pathetische Augenblick ist immer nur ein Phantasieprodukt. Er zerstäubt an der Wirklichkeit. Auf der andern Seite nämlich ist ebenfalls ein Mensch, das Selbstverständlichste von der Welt, solange man ihn denkt , das Unerwartetste, Verwirrendste und Lähmendste, wenn er erscheint .
Doch in dem »erfüllten Augenblick« ist alles Erlebnis von zehn Jahren verdichtet wie in einem Wassertropfen das Meer. Wie sie von Hotel zu Hotel geirrt ist, von Stadt zu Stadt. Sie hatte keine Menschen, keine Zuflucht, keinen Zuspruch, kein Heim, keine Hilfe. Stumm und kalt hatte sie die Weisungen des Mannes da oben entgegengenommen, der Vertrag war unterschrieben, ihre Zukunft war sein Diktat, sie besaß keine Rechte mehr, Freiheit nur, soviel er ihr zugestand, Vermögen nur, was vom elterlichen Erbe übrig war. Sie war krank gewesen, immer wieder krank und hatte nie einen Arzt gerufen oder aufgesucht. Sie hatte, im Kriege noch, in der umflammten und aufgewühlten Schweiz, in billigen Pensionen unter banalen Menschen gelebt und es fertiggebracht, nicht aufzufallen und nicht ihr unliebsames Interesse zu erregen. Sie hatte botanische und mineralogische Studien getrieben, sich mit kunstreichen Stickereien die Augen verdorben, war viel gewandert, oft über ihre physischen Kräfte, hatte sich schwer in die Einsamkeit gefunden, obwohl sie mit Menschen nicht leben konnte. Bei den mannigfachsten geistigen Interessen und einem ungebrochenen Lebensverlangen war ihr Herz gleichsam entleert, das Dasein, das sie führte, war glatterdings freudelos, sie konnte lachen und sich amüsieren, aber nur in gleichgültiger Gesellschaft, sobald irgend jemand, Mann oder Weib, sich zu vertraulicher Annäherung anschickte, veränderte sich ihr Wesen und hob unmerklich die Bindung auf. Sie konnte an nichts mehr recht glauben, ihr Verhältnis zur Außenwelt war in jedem Bezug erschüttert, nur mit zwei Menschen hatte sie in den letzten Jahren freundschaftlichen Umgang gehabt, einem Schweizer Maler, der sich auf einer Alm im Wallis verkrochen hatte, und einem greisen Gelehrten, Monsieur André Levy, Professor an der Sorbonne, berühmten Bakteriologen, den sie in Genf kennengelernt und in dessen Haus sie in Paris häufig verkehrt hatte. Ich habe von ihrem ungebrochenen Lebensverlangen gesprochen; dabei fühlte sie sich jeden Abend erleichtert, wenn der Tag vorüber war, jeden Morgen, wenn die Nacht vorüber war; aber gerade bei den Unglücklichen gibt es eine Verpflichtung von Tag zu Tag, die unlöslicher ist als die gegen die Existenz als solche.
Genau vierundzwanzig Stunden nach dem »erfüllten Augenblick« betrat sie das Andergastsche Haus. Die Generalin hatte die Zusammenkunft mit Wolf von Andergast telephonisch vermittelt. An die Stätte zurückzukehren, wo man das Unverwindbare erfahren hat, ist nicht sowohl eine Probe auf das Gedächtnis des Herzens als auf das des Auges. Es erweist sich, daß die meisten Menschen, auch wenn ihre Gefühle ermatten oder sogar
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