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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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stutzte er, hielt im Herumwandern inne, legte den Kopf schräg, verzog die Brauen, murmelte vor sich hin. Mehr als ein Dutzend Zigaretten hatte er der Reihe nach angezündet und sie alle nach zwei oder drei Zügen in die Schale geworfen. Manchmal drückte er die Hand an die Stirn (in derselben Weise, wie er es bei Maurizius beobachtet hatte), und sein Gesicht bekam den Ausdruck gefrorenen Grübelns. Schwärme von Fragen durchstürmten sein Hirn, es war wie ein Flockenwirbel, er konnte bei keiner verweilen. Von Zeit zu Zeit zog er die Uhr und vergewisserte sich mit Unruhe von dem Vorrücken der Zeiger, als hinge alles davon ab, daß er bis zu der Minute, die sein Alleinsein beendigen würde, zu einer Formulierung gelange. Doch der fieberhafte Wirbel ließ sich nicht beschwichtigen, indes die Uhrzeiger liefen. Nur das Gurren, nur das Gurren. Endlich tauchte folgende Frage aus dem Chaos greifbar empor: Warum hat er es damals nicht gesagt? Warum, da doch das Zugestandene eine so unverkennbare Wahrheitsprägung trägt, warum hat er in den ganzen neunzehn Jahren geschwiegen? So gut er jetzt sich entschließen konnte zu reden, hätte er sich vor drei, vor fünf, vor zwölf, vor sechzehn Jahren entschließen können. Was hat ihn verhindert? Scham, Rücksicht, Trotz sind nicht Empfindungen, die eine solche Prüfung überdauern, in der jedes einzelne Jahr zur Ewigkeit wird, in der auch die Opferidee, die offenbar als Frucht einer beispiellosen Leidenschaft eine Rolle spielt, der allgemeinen, inneren Verwesung mitverfallen muß. (Indem er dies dachte: allgemeine, innere Verwesung, wurde es Herrn von Andergast kalt und heiß um die Brust, er war also doch infiziert von der Atmosphäre des Schattenmenschen, er hatte den neunzehn Jahre dauernden Todesakt begriffen, war vielleicht sogar davon ergriffen worden, nachhaltiger, als er je gemutmaßt.) Was hat ihn verhindert, was? fuhr er zu bohren fort; eine ahnungsvolle Erkenntnis stieg auf: möglicherweise geht das sehr tief, überlegte er, möglicherweise war er sich bewußt, daß die Wahrheit nur für ihn selbst Wahrheit war, für mich, für uns aber nicht, für mich, für uns wurde sie erst in dem Augenblick reif, wo er, fast wider seinen Willen, bereit war, sie auszusprechen. Wie, durchfuhr es ihn plötzlich erschütternd, wenn die Wahrheit nur ein Ergebnis des Zeitverlaufs wäre? wenn ich vor drei, vor fünf, vor zwölf, vor sechzehn Jahren zeitgetrübt, zeitbefangen, gar noch nicht imstande gewesen wäre, die Wahrheit aufzunehmen, dieselbe Wahrheit, die mir jetzt so glaubhaft, so einfach erscheint –? Vielleicht entsteht die Wahrheit erst durch die Zeit und in der Zeit –? Der Gedanke hatte etwas so Bestürzendes, er warf ein so tödlich-fahles Licht auf alles, was er bisher Urteil und Richtspruch genannt hatte, daß er ein paar Sekunden hindurch das Gefühl hatte, der feste Kern seiner Persönlichkeit sei auseinandergeronnen. In seiner Not und wie um sich vor Selbstzersetzung zu retten, griff er sofort nach den aktenmäßigen Details des »Falles«, die ihn schon während der ganzen Fahrt von Kressa in die Stadt wie ein Puzzle beschäftigt hatten, z. B. inwieweit die Darstellung Maurizius' mit den in den Akten fixierten Zeitangaben übereinstimmte, diese Erwägungen hatte er schon vorher aufgegriffen und wieder fallengelassen. Kaum hatte er begonnen, sich von neuem darin zu vertiefen, als es leise an der Tür klopfte und Sophia eintrat.
    Herr von Andergast blieb hinter seinem Schreibtisch stehn wie hinter einem Festungswall. Es war eine jener Situationen, in denen selbst der förmliche Gruß zur Unsinnigkeit wird. Er hatte die Frau seit beinahe zehn Jahren nicht gesehen. Es war ihm während dieser zehn Jahre nicht ein einziges Mal eingefallen, seine Gefühle gegen sie zu untersuchen. Abgetanes besaß kein Anrecht mehr auf den geordnet fortschreitenden Tag. Die Fähigkeit zur Erledigung war in seinem Privatleben genau so eminent wie in seinem Beruf. Rückstände aufzuarbeiten gab es hier wie dort eine festgesetzte Frist, war die verstrichen, so wurde die Angelegenheit ad acta gelegt. Die Frau hatte die Tür hinter sich geschlossen, stand fünf Schritte von ihm entfernt, aber er sah sie nicht, d. h. er wollte sie nicht sehen, er war in keiner Weise neugierig. Die etwas entzündeten Lider waren gesenkt, der mächtige Körper schwankte ein wenig. Er wartete. Ich bin hinlänglich vorbereitet, womit kann ich dienen? sagte seine eisig distanzierte Miene. Doch um die Nase herum

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