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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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absterben, dennoch einen bestimmten Aufbewahrungsort dafür haben, dem sie sie jederzeit entnehmen können, erforderlichenfalls als gespenstische Requisiten, während ihnen die Dinge und die Räume nach und nach gänzlich entschwinden und sie beim Wiedersehen dermaßen überraschen, daß sie dann erst des Zusammenhangs zwischen ihrem damaligen und dem gegenwärtigen Ich innewerden. Es ist, als habe man ein angsteinflößendes Bild nur für eine kurze Weile mit der Hand zugedeckt, um seine schreckliche Wirkung abzuschwächen. So war es freilich bei Sophia nicht, ihre Seele hatte, wie gesagt, die unerloschene Glut durch das Jahrzehnt getragen, trotzdem hatte das Gegenständliche und Augenscheinliche, von dem sie sich plötzlich umgeben sah, eine niederdrückende Erinnerungsgewalt, vor allem eine zeitauslöschende, unter der der Gedanke an Altern und Ältergewordensein zu einem unfaßlichen Betrug der Natur wird, denn alles ist ja genau, wie es eh und je gewesen, zehn Jahre oder eine Woche, der Unterschied ist imaginär. Da ist die Treppenstufe, die dritte auf dem zweiten Absatz, sie knarrte auch damals schon, wenn man den Fuß auf sie setzte; da ist die Stelle links über dem Fenster des Stiegenhauses, wo die braunrote Tünche ins Gelbliche abgeblaßt ist; an diesem Messingknauf hat sie sich an einem gewissen Tag wankend festgehalten, nachdem sie erfahren, daß der geliebte Mensch sich die Schläfe durchschossen hatte, und es ungewiß war, ob sie noch die Kraft besaß, in das Haus zu gehen, wo seine Leiche lag; wie oft hat sie die verschnörkelten Buchstaben auf dem Porzellanschild im ersten Stock gelesen: Dr. Malapert, Augenarzt, wie hoffnungslos oft den Signalknopf im zweiten Stock gedrückt, mit welchem Widerwillen gewartet, bis die Tür zur eigenen Behausung sich auftat. Nun steht sie wieder da, drückt wieder den Knopf, man läßt sie ein, da hängt noch der Spiegel und gibt ihr Bild zurück, als hätte er es keinen einzigen Tag vermißt, da hängt der steife Hut am Haken, Symbol von etwas abstoßend Uniformiertem und Zeremoniösem, darunter die Mäntel, an denen noch immer der ekle Zigarrengeruch haftet, an der Wand gegenüber das Bild des alten Kaisers mit der leutseligen Miene und dem geteilten Bart, hier die Türe, aus der sie am letzten Abend nach dem letzten Abschied von dem schlaftrunkenen Knaben tränenlos geschritten ist (weinen, das war ihre Sache nie), und endlich die andere Tür, portiereverdeckt, die sie zu keiner Zeit ohne die Empfindung geöffnet hatte: wär es nur schon überstanden und wär ich wieder draußen . . .
    3

    Um sieben Uhr sagte Herr von Andergast zur Rie: »Es wird um halb acht eine Dame kommen, Meldung ist überflüssig.« Die Rie nickte wissend. Die Nanny der Generalin hatte nicht versäumt, ihr mitzuteilen, welchen Gast sie beherbergten. Sie fühlte sich als Opfer nebuloser Umtriebe. Sie gab der Köchin verkehrte Anweisungen und ließ in ihrer Nervosität einen Topf mit Mus auf die Küchenfliesen fallen, dann stand sie trübsinnig davor und dachte: alles geht in Scherben. »Erinnern Sie sich«, sagte sie, »vorvorigen Herbst passierte mir das auch, da kniete unser Junge hin und wollte das süße Zeug vom Boden aufschlecken.« Die Köchin gab vor, sich zu erinnern, sie habe sich sogar gewundert, da der Bub doch nie genäschig gewesen sei. »Wollte Gott, er wär's gewesen«, seufzte die Rie, »dann hätten wir ihn heute noch bei uns, wer naschhaft ist, hängt am Haus.« In dem Moment läutete es, das Stubenmädchen öffnete die Flurtür, die Rie trat leise auf den Korridor, sie sah eine mittelgroße, nicht eben zarte Frauengestalt mit festen Schritten gegen das Arbeitszimmer zugehen, und ihr feindseliger Gedanke war: Sie scheint sich ja hier noch ganz gut auszukennen, wie wenn dieser Umstand ein Beweis von Schlechtigkeit wäre. Niemals war ihr Wunsch, an einer Tür zu lauschen, so brennend gewesen, nur der ihr innewohnende Anstand hielt sie zurück. Eine Weile verharrte sie horchend auf der Stelle, als alles still blieb, schlich sie betrübt in ihre Stube.
    Um halb sechs war Herr von Andergast nach Hause gekommen, hatte Tee bestellt, aber die Tasse nicht berührt, sondern war die ganze Zeit über ruhelos auf und ab gegangen. Es war ihm unmöglich, die Stimme des Sträflings Maurizius aus dem Ohr zu bekommen. Was er auch tun und denken mochte, sie verfolgte ihn wie das beharrliche Gurren einer unsichtbaren Taube. Bisweilen schied sich von dem akzentlosen Gurren ein Satzfragment, dann

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