Der Fall Maurizius
rührende Figur einer Mère prodigue ausgedacht, einer gebeugten Niobe, statt dessen hatte sie mit einer Dame von nicht leicht zu durchdringendem Wesen zu tun, einer Frau von eigentümlich geschlossenem Geist, schweigsam, schmiegsam, kühl, deren Züge eine überraschende Jugendlichkeit bewahrt hatten, man konnte sie höchstens für zweiunddreißig halten, während die Generalin ausrechnete, daß sie das achtunddreißigste Jahr bereits hinter sich haben mußte. Aber die abschätzigen Urteile waren nur Blasen im Kopf der Generalin, zugrunde lag Tieferes, lag Eifersucht. Daß Sophia so unerwartet jung aussah, so bestechende Manieren, so tadellose Zähne noch, eine so schlanke Gestalt besaß, daß ihr also aller Voraussicht nach Etzels Herz jubelnd zufliegen würde, wie sie ihren Etzel kannte, das zwickte sie und bereitete ihr ungute Stunden.
Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, so wenig wie möglich von Etzel zu erzählen, einstweilen wenigstens. Auch dieser Vorsatz beruhte auf der erwähnten Eifersuchtsregung, obschon sie sich selber glauben machen wollte, es geschehe, um Sophia zu schonen und nicht unnütz zu quälen. Als sie sich aber nach dem Mittagessen mit ihrem Gast in den Salon begeben hatte, ging doch die Zunge mit ihr durch. Einerseits erschien es ihr nicht anständig, das, was sie wußte, Sophia zu verhehlen, andererseits war sie ein bißchen geschwellt von ihrem Wissen und ungeduldig, es auszukramen, gleichsam zum Beweis ihrer Umsicht und Tüchtigkeit. Sie hatte nämlich auf eigene Faust den Doktor Camill Raff aufgesucht; kurz vor dessen Übersiedlung in den Ort seiner Versetzung hatte sie ein ausführliches Gespräch über Etzel mit ihm gehabt; die Unterhaltung hatte ihr wichtige Aufschlüsse verschafft, und wenn sie sie mit dem kombinierte, was sie selbst mit dem Jungen erlebt hatte, vor allem mit seinem letzten Besuch und der stürmischen Geldforderung, fiel schon einiges Licht auf den Weg, den er eingeschlagen haben mochte, obschon dieser Weg darum nicht minder beängstigend und ungewöhnlich erschien. Hätte er doch wenigstens ein Lebenszeichen gegeben, man hätte ihn nicht verraten, man hätte sein Geheimnis geachtet und gehütet, bestimmt hätte man es getan, wenn sein Herz dran hing, aber so . . . einfach verduften, die Leute zu Hause sich in Gram und Sorge verzehren lassen . . . Die Generalin sagte rücksichtsvoll »die Leute«, sie meinte aber sich allein. Sophia hatte schweigend und höchst aufmerksam zugehört. Sie schwieg auch jetzt, als die Generalin mit ihrem Bericht zu Ende war. Nur ein Funkeln in den großen braunen Augen verriet ihren inneren Anteil. Die Generalin stutzte eine Sekunde lang: Es war dasselbe Funkeln, das bronzene Leuchten wie bei »ihm«, kein Zweifel, das hatte er von ihr, auf einmal verflüchtigte sich die alberne Eifersucht, und sie fühlte heftige Sympathie für die Frau. Sophias aufatmender Gedanke war: So also ist er. Sie war niemals das gewesen, was man eine leidenschaftliche Mutter nennt, d. h. sie hatte ihre Liebe nie zur Schau getragen, und zu der Zeit, als sie noch bei ihm war, hatte sie den größten Wert auf einen leichten Umgangston gelegt. Stets bereit, mit ihm zu lachen und zu scherzen, hatte sie es sorgsam vermieden, ihn mit jener selbstsüchtigen Zärtlichkeit zu belasten, die ihn zu früh in die wirrselige Welt der Gefühle verstrickt hätte. Vielleicht hatte Herr von Andergast nur auf seine Weise (aber was war das für eine Weise, eine blutlose, instinktlose, verstandeskalte) zu vollenden versucht, was sie aus der Fülle einer reichen Natur heraus begonnen; es ließ sich denken, daß er sich gerade hierin in einer geheimnisvollen Abhängigkeit befand, die er freilich weder vor sich noch vor irgendeinem Menschen je zugegeben hätte; er hatte ja auch nichts vollendet, wo die Erleuchtung des Herzens fehlt, bleiben pädagogische Experimente übrig, und die waren jämmerlich fehlgeschlagen. Als Sophia sich von ihrem Knaben trennen gemußt, hatte niemand eine Klage von ihr gehört, um wieviel weniger einen Verzweiflungsausbruch, man hatte sogar öffentlich darüber gesprochen und von ihr gesagt, daß sie keiner tieferen Empfindung fähig sei. Nun, mit ihr war es eigen, sie konnte mit einem gehegten Bild in der Seele existieren und so, als ob es ein Wesen aus Fleisch und Blut wäre. Jedenfalls hatte sie bis zum heutigen Tag das Gefühl tätiger Verbundenheit, in all den Jahren war ihr zumute gewesen, als erziehe sie den Knaben aus der Ferne zu ihrem
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