Der Fall Maurizius
dehnte sich eine schwimmende Blässe aus. Sophia schritt zu dem Ledersessel, der im Halbschatten vor dem Bücherregal stand und ließ sich lautlos nieder. Sie betrachtete den Mann mit ihren dunklen Augen. Um ihre Mundwinkel zuckte es bitter und drohend. Es schien, als wolle sie es erzwingen, daß er zuerst das Wort an sie richte. Sie kannte seine Hartnäckigkeit und empfand wie in früherer Zeit Verachtung gegen eine Haltung, von der sie wußte, daß sie nur die dürre Befolgung einer »Richtlinie« war. Sie sah aber bald ihren Irrtum ein, mit ihrem geschärften Instinkt blieb sie nicht im unklaren darüber, daß mit dem Mann eine Veränderung vor sich gegangen war, als sei von der steinernen Unrührbarkeit und angemaßten Machtvollkommenheit bloß noch Miene und Blick und Geste übrig, die unversehrte Schale einer ausgehöhlten Frucht. Diese Wahrnehmung stimmte sie nicht milder, nichts an ihm konnte sie versöhnlich stimmen, es erregte aber auch keine Genugtuung in ihr. Es interessierte sie nicht. Er war in ihren Augen keine Person, über die man nachdenkt. Der Platz, den er einstmals (fast ausschließlich in zerstörendem Sinn) in ihrem Leben eingenommen, war nicht mehr da. In einem Sturm aufgesammelter Entschlossenheit hatte sie die Reise angetreten, ihr ehemaliger Anwalt, mit dem sie bisweilen geschäftliche Briefe wechselte, hatte sie von Etzels Flucht in Kenntnis gesetzt. (Auch die beiden Briefe, die sie im März und April an Herrn von Andergast gerichtet und in denen sie unter Hinweis auf die Unhaltbarkeit und Unwürdigkeit der Maßregel, da doch der angeblich freiwillige Verzicht ein erpreßter Verzicht gewesen, die Aufhebung des bestehenden Zustands gefordert, hatte sie mit seinem Wissen geschrieben. Beide Briefe waren keiner Antwort gewürdigt worden, als sie es dem Rechtsfreund gemeldet, hatte sie hinzugefügt: Es war ein unverzeihlicher Fehler, an eine Instanz zu appellieren, die die menschlichen Vokabeln nicht versteht.) Die Nachricht und daß der Knabe unauffindbar blieb, hatte sie über alle Hemmungen hinausgetrieben und sie gegen die Folgen eines Schrittes, der genau betrachtet wenig praktischen Nutzen versprach, gleichgültig gemacht. Sie wollte handeln, sich zumindest zeigen, da die einschüchternde Angst von ehemals nicht mehr vorhanden war. Nun saß sie hier, stumm, gleichsam erstickt, genau wie damals, als er ihr nach Abpressung des Schuldbekenntnisses und Georg Hofers Selbstmord das wahnwitzige Dokument zur Unterzeichnung vorgelegt hatte, skrupelloser Ausbeuter ihrer Schuld und unter der Maske des Richters seiner Rache frönend.
Es entwickelte sich ein Dialog, der, durch das eigene Gewicht niedergezogen, die konventionellen Unvermeidlichkeiten abstieß, um sich in Tiefen zu verlieren, wo die Seelen sich in ihrer gesetzhaften Gegnerschaft sozusagen weltlos gegenüberstanden und der mit allen seinen Bezüglichkeiten, Verstecktheiten, Schweigepausen und stichwortartigen Verkürzungen kaum wiedergegeben werden kann. Oft antwortete nur das Verstummen des einen Partners der Rede des andern, deutlicher als mit Argumenten, zerrissene Gedankenreihen teilten sich mit, ein Achselzucken enthielt eine Geschichte, die Luft des Zimmers war mit Vibrationen geladen, die sich unmittelbar auf die Nerven der zwei Menschen übertrugen. Herr von Andergast begann damit, daß er leider nicht das Glück habe, über den Zweck des Besuches informiert zu sein, obschon er den Anlaß erraten könne, eine fade Redensart, die er noch dazu mit der nämlichen Stimme vorbrachte, mit der er sich in der Sprechstunde an eine Partei zu wenden pflegte. Nach reiflicher Erwägung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer solchen Entrevue habe er sich für das erstere entschieden, jedoch . . . Emporheben der Schultern, wie wenn er damit am Ende seiner Weisheit wäre. Sophia schnellte auf. Die freche, papierne Majestät, dachte sie empört. Dann lächelte sie und setzte sich wieder. Besagter Anlaß, fuhr er um eine Schattierung höflicher fort, da er mit der Einleitung seinen Standpunkt ausreichend scharf betont zu haben glaubte, besagter Anlaß könne ihn aber weder zu einer Erklärung noch zu einer Diskussion zwingen, er anerkenne nach wie vor keine dahinzielenden Ansprüche. – »Ah, wirklich?« kam es wie ein Vogelruf von Sophias Sessel her. Unangenehm berührt schaute Herr von Andergast in die Richtung. »So ist es«, bestätigte er kalt. Sophia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. »Vergebliche
Weitere Kostenlose Bücher