Der Fall Maurizius
nämlich sie zu verschärfen und Maßregeln gegen eine zu befürchtende Annäherung dieser offenbar verhängnisvoll gleichartigen Charaktere zu treffen.
Und Sophia?
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Die Dinge lagen für sie ganz einfach so: in der Entfernung alarmiert, hatte sie selbstverständlich an ein unheilvolles Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn geglaubt, hervorgerufen einerseits durch die despotische Willkür des Herrn von Andergast, seine Gemütskälte, seine Gewohnheit, die von ihm abhängigen Menschen in unnachsichtiger Zucht zu halten und zu schweigendem Gehorsam zu verpflichten, andererseits durch die natürliche Auflehnung eines jungen Geistes, der nach Selbstleben und Selbstverfügung dürstete und den ersten besten Vorwand ergriff, das unerträgliche Joch abzuschütteln. Sie hatte sich stürmische Szenen ausgemalt, offene Entzweiung, die Flucht hatte sich ihr als plan- und kopflose Handlung dargestellt, Verzweiflungsakt, der nach abenteuerndem Herumirren in der Welt entweder zu Rückkehr und Strafe oder zum Untergang führen mußte. Die Mitteilungen der Generalin hatten ihr die Vorgänge in einem andern Licht gezeigt und eine Bestätigung jener auf geheimnisvollen, seelischen Kommunikationen beruhenden Zuversicht gegeben, die von den obenauf zitternden Angstbildern nur verdeckt worden war. Sie hatte aber noch Zweifel gehegt. Das Beisammensein mit dem Manne beseitigte sie. Für die inneren Bewegungen der Menschen empfindlich wie ein Seismograph, erkannte sie in seiner Unrast, dem jäh auflodernden und wieder verlöschenden Blick, der scheuen Wachsamkeit, verbunden mit einer an Geistesabwesenheit grenzenden Zerstreutheit Begleiterscheinungen einer Katastrophe. Da hatte sich Sinnvolleres ereignet als das gewöhnliche Davonlaufen eines Halbwüchslings, der gegen das väterliche Regiment rebelliert. Selbst wenn es ihretwegen geschehen wäre (es ließ sich ja denken, daß ihm das an der Mutter verübte Verbrechen nicht verborgen geblieben war und er deshalb den Vater verlassen hatte, mit der geheimen Hoffnung vielleicht, zu ihr zu flüchten), auch dann hätte sie die Befriedigung nicht verspürt, die sie jetzt empfand. Dieses »Sinnvolle« war von höherer Art, die Vergeltung schlagender. Wer hätte sich getrauen dürfen, das, gerade das zu hoffen und zu prophezeien? Sie lächelte, nicht triumphierend, eher überrascht, als könne sie an etwas Wunderbares noch nicht ganz glauben. Furchtlos sagte sie: »Die Ansprüche, die ich stellen könnte, haben keinen Inhalt mehr, nur weißt du es nicht.« – »Wie das?« fragte Herr von Andergast mit schwachem Versuch, Interesse zu zeigen, und stellte das Petschaft wieder auf seinen Platz. – »Das heißt, du weißt es wohl, du bewirkst nur das Nichtwissen künstlich«, fuhr Sophia fort, »wie sollte jemand wie du nicht wissen, wenn er in seinem Mark getroffen und in seinem Lebensgesetz aufgehoben ist.« – »Darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß diese Ausführungen jeder Verständlichkeit entbehren?« – »Bitte. Meine Ambition in der Beziehung ist gering. Die Sache ist aber nicht besonders dunkel.« – »Ich bin ganz Ohr.« – »Du bildest dir doch nicht ein, daß es sich bloß um eine vorübergehende Störung des Verhältnisses zu deinem Sohn handelt? Der Bub wird zurückkommen, wenn er seinen Zweck erreicht hat oder wenn er sich überzeugt hat, daß er unerreichbar ist. Er wird zurückkommen, ohne Frage, aber nicht zu dir. Niemals mehr zu dir.« – Herr von Andergast lachte trocken und etwas mühselig auf. »Ich sollte meinen, dagegen gibt es Anstalten und Vorkehrungen«, versetzte er. – »Zwangsanstalten und Zwangsvorkehrungen. Ja. Damit gewinnt man nicht eine Seele zurück.« – »Ich lege keinen Wert auf die Seele.« – »Das weiß ich. Also wirst du versuchen, die Seele zu exorzisieren. Du hast ja so herrliche Resultate damit erzielt.« – »Ich werde tun, was mir die Pflicht gebietet.« – »Selbstverständlich. Die Pflicht ist ein großer Herr. Und was gebietet sie dir? Den Kerker.« – »Ich lehne die Debatte in diesen Formen ab.« – »Die Form, mein Gott«, sagte Sophia mitleidig, »ich kann nicht wie deine Kanzleiautomaten mit dir reden, wenn es um das geht, worum es eben geht.« – »Nämlich?« – »Ich bin nicht gekommen, um etwas zu fordern, sondern um etwas zu verhindern.« – »Und das wäre?« – »Verstündest du nicht so gut, du fragtest nicht so schlecht.« – »Du scheinst also doch zu befürchten, daß ich der Entwicklung der Dinge nicht so
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