Der Fall Maurizius
Gesetz, und mir zwangst du das Geständnis mit der Lüge ab, daß ich ihn damit vom Schwur entband. Meineid . . . nützliches Instrument, so oder so, manchmal braucht und ignoriert man ihn, manchmal verdammt und verfolgt man ihn, der Zweck heiligt die Mittel. Es ist ja eine Welt des Meineids, in der ihr existiert. Der aber, mit dem du mich und ihn gefangen hast, ist ein schwarzer Fleck in deinem Leben, nicht auszutilgen, magst du sonst auch wie ein Büßermönch gelebt haben, der läßt sich nicht weglöschen und übertünchen. Ich hab mich oft gefragt, wie man damit fertig werden kann . . . wahrscheinlich durch Nichthinsehen, ihr habt ja so viel Kraft und Ausdauer im Nichthinsehen . . .«
»Ja. Meineid«, sagte Herr von Andergast tonlos, und sein gelbliches Gesicht über dem gebeugten Rumpf stieß aus der Dunkelheit vor, »ja, er muß wohl einen Meineid geschworen haben.« Sophia blickte erstaunt nach ihm hin. Sie wußte natürlich nicht, welche innere Verstörung diese Worte hervorgerufen hatten. Sie blieb stehen und sah ihn forschend an. Da sagte er, abgehackt: »Es ist nicht gut, die alten Geschichten aufzuwärmen. Nicht gut, Sophia. Besonders nicht, das hat seine Gründe, in diesem Moment. Du bist eine Frau, zwar verstehst du vielleicht mehr als andre, aber das . . . nein. Ihr Frauen habt neuerdings einen Appell, auf den wir nicht eingerichtet sind. Es sind da Differenzierungen, zu denen ihr gelangt, weil ihr Zeit habt, sehr viel Zeit, und nichts wißt von dem kaiserlichen Muß und Soll. Wenn ich wäre, was ich sein könnte, war ich in einem höheren Recht gegen dich. Jedoch . . . (er hielt aufatmend inne) bedenke, daß heute fast jeder Mann, der sich den Fünfzigern nähert, in seiner Lebensidee gebrochen ist. Ich bin, leider, keine Ausnahme von der Regel.« – Sophia stand mit gesenkten, langwimprigen Lidern. Sie antwortete: »Zieh deine Hand ab von dem Buben.« – Er darauf, mit seiner ganzen Starre wieder: »Ich kann nicht einsehen, mit welchem Recht –« – Sophia unterbrach ihn mit ungestümer Handbewegung: »Recht, Recht . . . ich habe meinen Preis bezahlt.« – »Auch mir hat man nichts geschenkt.« – Da sie schwieg, schaute er sie an und wußte auf einmal, was für einen Preis sie bezahlt hatte. Es gibt Frauen, die nach einem Leben freiwilliger, weil von einem alles aufzehrenden Ziel befohlenen Entbehrung eine zweite Jungfräulichkeit erringen. Er schaute sie an, sie lächelte, das Lächeln war schmal und hatte eine stille Gewalt. Plötzlich nickte sie ihm zu, fremd, stolz, und wandte sich zur Tür, im Gehen den Handschuh über die linke Hand ziehend. Herr von Andergast ließ sich auf dem Schreibtischsessel nieder, stützte die Ellbogen auf den Tischrand und schlug die Hände vor das Gesicht. So saß er zwei Stunden lang und hörte nicht das mehrmalige, immer zaghaftere Pochen der Rie, die sich endlich gegen elf Uhr ängstlich entschloß, die Türe sacht zu öffnen und durch den Spalt zu wispern, daß das kalte Abendessen bereitstehe. Sie war übrigens mit dem Besuch der Frau gewissermaßen versöhnt, denn als Sophia beim Verlassen des Zimmers die Rie auf dem Flur stehen sah, war sie auf sie zugegangen und hatte ihr stumm die Hand gedrückt.
6
Um sieben Uhr morgens befand sich Herr von Andergast abermals auf dem Weg nach Kressa. Was wollte er dort? Was erwartete er? Was zog ihn so ungeduldig hin, daß das Auto im Tempo einer Postkutsche zu schleichen schien und er jedes Hindernis auf der Fahrstraße mit Erbitterung betrachtete? Wieder Verhör und Befragung, es hatte keinen Sinn mehr. Die kriminellen Einzelheiten, mit denen er sich noch gestern solchen Sinn vorgetäuscht, hatten aufgehört, etwas zu bedeuten. Sie konnten dem Bild nichts hinzutun, nichts von ihm nehmen. Worin lag also der Antrieb? Er vermied es, darüber mit sich ins reine zu kommen. Diese Art von Unruhe näher zu untersuchen, als ob man . . . zum Lachen . . . als ob man einen Freund, bevor unaufhaltsame Entscheidungen fielen, noch sehen müsse, hätte auf bedenkliche Abwege geführt. Freund . . . der Zuchthaussträfling: Freund? Es war vielleicht der kranke Kopf, der solche Mißregungen gebar. Überarbeitung. Druck und Nachhall widriger Erlebnisse, das da mit der Frau und das andre mit dem Jungen. Indem er sich befliß, beiden das Gewicht abzusprechen, nicht daran zu denken, nicht daran zu leiden, jede Verschuldung zu leugnen, belud er möglicherweise, so sagte er sich, den Zwischenfall Maurizius aus innerer Gegendemonstration
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