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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Hoffnung«, sagte sie gelassen, »es werden keine Ansprüche geltend gemacht, du kommst daher nicht in die Lage, sie zu bestreiten.« – Herr von Andergast hob fragend die Brauen. Um so weniger begreife ich den Wunsch nach dieser Zusammenkunft, drückte der verhaltene Überdruß seiner Miene aus. Jenes erste Du aus dem Mund der Frau war ihm wie ein Schock gewesen, obwohl nicht einzusehen war, wie es auf die Dauer umgangen werden konnte. Er griff nach dem Petschaft, das neben dem Tintenfaß lag, wog es in der Handfläche und starrte es aufmerksam an. Seine Gedanken bewegten sich in zwei konzentrischen Kreisen. Der eine umschloß alles den Sträfling Maurizius Betreffende (in einer wundgeschürften Partie seines Gehirns), er hatte das Gefühl, als ob er die Zelle vorzeitig verlassen und dadurch die wichtigsten Enthüllungen versäumt habe, ich muß das nachholen, sagte er sich, da sind Momente, die noch der Aufklärung bedürfen. Er rekonstruierte innerlich den Mordschauplatz, er erwog, wieder und wieder, den Umstand mit dem verschwundenen Revolver, er rechnete die Zeit nach, die Waremme vom Kasino bis zum Gartentor gebraucht haben mußte, und fand eine verdächtige Differenz von anderthalb bis zwei Minuten heraus, er überlegte die voll eingebrochene Dunkelheit des nebligen Oktoberabends und machte dem Verfahren den Vorwurf, daß es den Zufallszeugen zu viel Glaubwürdigkeit beigemessen (der alte Fehler, wie er resigniert zugab), er maß im Geist die Distanz vom Zaun bis zum Hauseingang ab, wo die Anna Jahn gestanden war, fünfunddreißig Meter, und daß Waremme an Maurizius vorübergelaufen sein mußte, wenn dieser wirklich nicht geschossen, dann wahrscheinlich umgekehrt war, um Maurizius mit dem vom Boden aufgehobenen Revolver in der Hand gegenüberzutreten: alles dies, um schließlich festzustellen, daß man den Sträfling neuerdings aufsuchen müsse, und zwar ehebaldigst, um ihn zu letzten Aufklärungen zu veranlassen, wobei er sich jedoch verhehlte, daß es die Persönlichkeit des Maurizius selbst war, die ihn in einer Weise anzog und in Atem hielt wie nie ein Mensch bisher, und er außerdem der einzig möglichen Schlußfolgerung angstvoll auswich, nämlich, daß Waremme einen Meineid geschworen haben mußte; das sich klar zu sagen, ging über sein Vermögen, mit ungeheurer Willensanstrengung verhinderte er, daß es in sein Bewußtsein trat.
    So blieb alles Quälende Vision in dem einen Kreis und schlug von Zeit zu Zeit auch in den andern über, in welchem Sophia sichtbar und, trotz des Entschlusses, den Knaben nicht mit ihr in Verbindung zu denken, Etzel unsichtbar stand. Obgleich er den Eindruck erweckte, als habe er Sophia überhaupt noch nicht wirklich angesehen, hatte sein verborgener Späherblick ihre Erscheinung längst aufgenommen. Die Wahrnehmung, daß die Zeit an ihrem Äußeren nur geringe Verheerungen angerichtet, erfüllte ihn mit einem haßvollen Staunen. Die rotbraunen Haare hatten immer noch denselben leisen Goldschimmer, das liebliche Oval der Wangen hatte keine wesentliche Einbuße erlitten, die Brauen waren noch immer so charakteristisch hochgebogen und verliehen dem Gesicht den Ausdruck einer beständigen, etwas kurzsichtigen Neugier, der ihn so oft ungeduldig gemacht hatte, der Hals war beinahe ohne Falten, von Schwere des Schicksals ließ die Haltung nichts erkennen, von Krankheit nichts, von einem zurückgelegten Weg der Buße nichts, von Reue und Demut nichts, keine bittstellerische Gebärde, nichts Gedrücktes, nicht Spuren der Not, der Verlassenheit, nichts von dem, was man erwartet und gern gesehen hätte, sondern Freiheit, Gemessenheit, Besonnenheit. Wie konnte das sein? Da stimmte etwas nicht. War das der Erfolg der auferlegten Strafe? Wo war dann der Sinn der Bestrafung? Diese ruhige Miene, dieses überlegene Schweigen, dieses süffisante Lächeln (so erschien es ihm, in Wirklichkeit war es ein schmerzliches Lächeln, wie ja das ganze innere Leben der Frau sich in gewissen seelenhaften Zügen um den Mund herum ausdrückte) . . . Weit erschreckender noch die Ähnlichkeit mit Etzel, das bloße Dasitzen schon, der argwöhnisch gespannte Blick mit der geheimen, stets bereiten Abwehr, die Mischung von Kindlichkeit und ärgerlicher Reife in den Zügen, von Wißbegier und von . . . ja, von Verschlagenheit, es war außerordentlich merkwürdig, geisterhaft beinahe, etwas, worauf er nicht gefaßt gewesen und was ihn vielleicht nötigen würde, seine Taktik einer Revision zu unterziehen,

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