Der Fall Maurizius
Vorsteher und vom Inspektor, sie reichen ihm die Hand, wünschen ihm Glück auf den Weg, das eiserne Tor fällt hinter ihm ins Schloß, er steht allein in der Sonne. Die Straße krümmt sich nach abwärts, die Füße suchen gerade Fläche, den Ausgleich herzustellen kostet eine gewisse Überlegung. Nachdem er zwanzig Schritte gegangen ist, vermag er sich nur mit Mühe davon zu überzeugen, daß er nicht umkehren muß, das sitzt in den Beinen, der Zwang, umzukehren, er hat dann noch tagelang dagegen anzukämpfen. Es ist zunächst erschreckend, daß man weiter gehen kann, weitergehen soll. Nicht minder erschreckend als der dem Körper verfügbare Raum. Als sei man in die Luft geschleudert worden und schlage verzweifelt mit Armen und Beinen um sich. Es kommt zuviel Atem in die Brust. Alles ist ein wenig schwer, das Licht, der Himmel, die ungewohnten Kleider, das harte Leder der Schuhe. Man geht mit gehackten Hampelmann-Schritten. Nach einer kleinen Weile ist man müde, bleibt stehen, schaut sich um, fühlt sich hilflos. Leute starren befremdet. Man lächelt. Sie wenden sich ab, ohne das Lächeln zu erwidern. Man muß eine neutrale Miene für sie finden. Bitte, geh ich hier recht zur Station? Erste Gasse links, zweite rechts. Danke. Aber warum umkehren? Geradeaus, Mensch, geradeaus. Kinder! Da stehen Kinder. Er bleibt gleichfalls stehen, erbleichend. Sie sind sehr klein, diese Kinder. Auffallend zwergenhaft. Und da . . . zwei Frauen. Er muß sich an eine Auslage anlehnen und greift mit den Händen rückwärts, beinahe hätte er die Scheibe zertrümmert. Der Besitzer tritt heraus, faucht ihn zornig an. Überdemütig entschuldigt er sich. Einen Moment lang verspürt er das unsinnige Verlangen, die Frauen anzufassen, ihre Brüste zu betasten, doch rafft er sich zusammen, sein Gesicht wird ernst, fast finster. Von da an, automatisch, wird dieses ernste, fast finstere Gesicht seine Maske, je undurchdringlicher, je heftiger die Eindrücke der sichtbaren Welt auf ihn zustürzen. So geht er durch die Menge, so steht er auf dem Bahnsteig, so lauscht er dem verworrenen Durcheinander der Geräusche, so sitzt er im Abteil des Eisenbahnzugs, mit dem ernsten, fast finsteren, unnahbaren, unbeweglichen Gesicht, die Augen halb geschlossen, die Lippen etwas nach innen gekniffen. Jedesmal, wenn er eine Dame mit kurzem Rock und hellen Seidenstrümpfen sieht, bedeckt sich seine Stirn mit schwacher Röte, und die Nasenflügel beben. Er kennt das nicht. Damals war das nicht. Alles ist anders geworden. Alles ist verwandelt. Sprechen die Menschen noch dieselbe Sprache? Er horcht. Es sind dieselben Worte, jedoch will ihm scheinen, daß sie einen Tonfall und Rhythmus haben, der seinem Ohr nicht mehr vertraut ist. Die Möglichkeit, daß ein Zeitabschnitt wie der, der ihn dem Zusammenhang entrissen hat, nicht nur von Aug und Ohr, sondern auch vom gesamten Organismus als nicht mehr zu überbrückende Kluft empfunden wird, fängt an ihn zu beschäftigen und zu beunruhigen. Ein Gefühl des Mißbehagens stellt sich ein und steigert sich bis zu dem kalter Unwohnlichkeit.
In Hanau verläßt er den Zug. Eine Weile treibt er sich in den Straßen herum. Der wolkenlose Himmel glitzert wie flüssige Bleimasse, in der Sonne zu gehen ist außerordentlich erschöpfend, das geile Licht blendet die Augen. Vor dem Laden eines Optikers bleibt er stehen, zögert, geht hinein, verlangt eine Brille. Man legt ihm sechs oder acht mit verschiedenen Gläsern vor. Er wählt eine mit dunklen Gläsern. Sie hat eine Metallfassung. Der Verkäufer empfiehlt Hornfassung, es sei die Mode, sehe eleganter aus. Gut, nickt er und nimmt die Hornbrille, setzt sie gleich auf. Er fühlt sich mit der Brille sicherer, geborgener, das Unbehagen läßt nach. Er schaut in den Spiegel. Lange kann er den Blick nicht von dem blassen Gesicht mit der dunklen Brille abwenden.
Eine Viertelstunde später steht er vor dem Haus in der Marktgasse. Er sucht nach der Wohnung. Eine alte Frau weist ihn zur Holzstiege im Hof. Bangigkeit und Furcht machen das Erklimmen der Treppe zur schweren Arbeit. Das Wort Vater ist etwas Verklungenes. Überbleibsel aus einer Vorwelt. Er empfindet weder Freude noch Erwartung, nur die Furcht davor, daß er Gefühle zeigen soll, die er nicht hat. Er fragt sich, ob diese Gattung von Gefühlen nicht überhaupt in seiner Brust erstorben ist, aber indem er an Hildegard denkt, verneint er die Frage mit leidenschaftlichem Ungestüm. Aber ist »Hildegard« vielleicht nicht bloß
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