Der Fall Maurizius
sehen aus wie aufgeklebtes Moos, die Beule auf dem Kopf gleicht einer kleinen Glühbirne. Er schläft. Aber so still. Leonhart Maurizius beugt sich zu ihm herab, um nach dem Atem zu horchen, etwas in der Haltung scheint ihm nicht geheuer. Nein, es ist kein Schlaf. Der alte Mann ist tot.
5
Durch das Ereignis zu äußerer Betätigung gezwungen, wird Maurizius seiner Unbeholfenheit und dessen, was als Hemmung zwischen ihm und den Menschen liegt, drückend inne. Gespräch mit dem Arzt, amtliche Todesanzeige, Transport der Leiche, Verhandlung wegen des Grabes, Bestattungszeremonien, Beschaffung von Geld und alle damit verbundenen Förmlichkeiten, Besuche beim Notar, Besprechung mit dem Hauseigentümer, Erklärungen, Abgabe von Unterschriften, lauter Leidens- und Qualwege. Dazu die Zeitungsleute, die ihn aufgespürt haben, vor denen er flieht und sich verbirgt. Erst am sechsten Tag kann er abreisen. Er übernachtet in Köln. Um elf Uhr vormittags ist er in Kaiserswerth und fragt nach der Familie Kruse. Er wird zu einem Landhaus dicht am Rheinufer gewiesen. Er fährt hin, läutet an einem hohen Gartentor. Ein ältliche Frau erscheint: er möchte Frau Kruse sprechen. In welcher Angelegenheit? In einer privaten, persönlichen. Wen sie melden dürfe? Kunsthändler Markmann aus Frankfurt. Er ist so totenbleich, sein Wesen so verstört, daß die Person ihn argwöhnisch mustert. Sie verschwindet. Er wartet. Seine Kehle ist sandtrocken, er muß fortwährend Schluckbewegungen machen. Eine riesige Dogge trabt lässig über den Rasen, stutzt, schaut ihn durchdringend an, knurrt, verbleibt in Wächterstellung. Die Frau kommt zurück, bedauert, die Dame ist ausgegangen, er möge sein Anliegen schriftlich vorbringen. Er wendet ein, daß er abreisen muß. Achselzucken. Er fragt, mit törichter Dringlichkeit, die Verdacht erwecken muß, ob die Dame nach Tisch anzutreffen ist, was ihn herführe, sei von Wichtigkeit. Unbestimmte Antwort. Schon zum Gehen entschlossen, kehrt er noch einmal um, und wider Willen, obwohl er im selben Augenblick erkennt, daß es eine Dummheit ist, durch die er seine Absicht entschleiert, fragt er: »Wohnt Fräulein Körner hier?« Die Frau gerät in Verlegenheit, betrachtet ihn noch forschender als früher, entgegnet, das könne sie nicht sagen, und schlägt das Tor zu. Es ist klar, daß sie bestimmten Weisungen folgt. Es unterliegt also auch keinem Zweifel, daß man seinen Besuch erwartet und Vorkehrungen dagegen getroffen hat. Ihn dünkt, als werde er von einem Fenster des Hauses aus beobachtet. Er sieht, wie sich ein Vorhang bewegt. Er hat es dunkel geahnt, er hat die Ahnung in sich nicht nähren wollen, er hat die Gedanken rundherum davon abgehalten wie Schmeißfliegen, die um etwas Süßes schwärmen, jetzt wird es langsam Gewißheit: man will ihm den Weg zu seinem Kind verrammeln. Und wenn einmal ein solcher Plan besteht, wenn man den Mut, die Unmenschlichkeit aufgebracht hat, ihn überhaupt ins Auge zu fassen, dann ist auch zu erwarten, daß man ihn mit unerbittlicher Konsequenz durchführen wird. Man läßt sich da nicht erst auf Versuche und Verhandlungen ein, sondern man geht aufs Ganze, und was an der Pforte so schnöd begonnen, kann keinen versöhnlichen Fortgang hoffen lassen. Was soll er tun? was soll er um Gottes willen tun? Weiß Hildegard, daß er wieder der Welt zurückgegeben ist? Weiß sie überhaupt von seiner Existenz? Vielleicht hält sie ihn für tot. Vielleicht ist ihr nicht einmal sein Name bekannt. Was hat ihn berechtigt, an sie als an ein ihm gehörendes Wesen zu denken? Besitzt er überhaupt irgendwelche Rechte auf sie, außer denen, die er sich in wirklichkeitsentfremdeten Träumen angemaßt? Wenn sie jedoch von ihm weiß und mit Gewalt verhindert wird, ihn zu sehen? Eine Maßregel, die allerdings auf die Dauer erfolglos bliebe. Was soll er tun, was soll er tun? Er geht in der Allee gegenüber der Villa auf und ab, Gedanken, schauriger und tobender, als sie je sein Hirn zermartert haben, kann er nicht beschwichtigen, nicht wegtun. Nach zwei Stunden fährt er nach Düsseldorf zurück. In seinem Hotel angelangt, telephoniert er. Hier Villa Kruse. – Hier Viktor Markmann, wünscht die Dame des Hauses zu sprechen. – Sie ist am Apparat, worum handelt es sich? – Es handelt sich um eine Zusammenkunft mit Fräulein Körner. – Fräulein Körner ist verreist. – Verreist? Seit wann? Wohin? – Darüber können wir keine Auskunft geben. – Ich habe eine Botschaft an sie, eine
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