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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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seinen Namen nie vor ihr genannt. In ihrem zwölften Jahr hat sie ein scheu geführtes Gespräch zwischen der Pflegemutter und einem würdigen älteren Herrn belauscht, der dem Kind sein Interesse zugewendet hat, seitdem ahnt sie alles. An ihrem fünfzehnten Geburtstag teilt ihr die Pflegemutter, was sie notwendig wissen muß, schonend mit. Sie ist sofort von seiner Schuldlosigkeit überzeugt. Sie spricht darüber nicht, sie hütet sich auch ihrerseits, seiner zu erwähnen, aber in ihrer großen, starken Seele schlägt der Glaube immer tiefere Wurzel, daß er eines Tages gerechtfertigt vor der Welt dastehn wird, und der noch festere Glaube, dem gegenüber alles andere zur Unwichtigkeit herabsinkt, daß er zu ihr kommen und sie zu sich nehmen wird. Sie wird ihn glücklich machen. Sie wird die Erinnerung an alles Erlittene in ihm auslöschen. Es ist, als wische man mit einem nassen Schwamm die Schrift von einer Schiefertafel. Die Pläne, die sie für ihr eigenes Leben faßt, haben keinen andern Inhalt als wie sie ihn für seine Leiden entschädigen kann. Sie wartet auf ihn, sie wartet mit der ganzen Sehnsucht eines kindlichen Gemüts. Sie wartet auf seine Auferstehung . . . Unaufhaltsam spinnt das Hirn den Traum weiter, wirft alle Erfahrung, alle Wahrscheinlichkeit, alle Wirklichkeit über Bord, und was aus dem Urgrund emporsteigt, ist das Einfältige des Kindermenschen, Knabenwünsche und Knabenerwartungen am Tag vor der Weihnachtsbescherung . . . Sie ist jung, keine Kopfhängerin, es wäre verfehlt von ihr, sich in eine Pflegerinnenrolle hineinzuleben, um seinetwillen auf das Glück von Liebe und Ehe zu verzichten, sie wird einen Gatten wählen, der bereit ist, sich gemeinsam mit ihr der Aufgabe zu widmen, dem »Auferstandenen« Heimat und Heim zu schaffen, es werden Kinder da sein, süße blonde Enkelchen, heitere Menschen bevölkern das Haus, am Abend sitzt man zu gemütlicher Unterhaltung gesellt in freundlichen Räumen . . .
    Aber wie wird die erste Begegnung sein? Das bisher schattenhaft Hypothetische des Traumgedichts festigt sich zu klar umrissenem Geschehen. Mit souveräner Unbekümmertheit korrigiert die Phantasie die anfängliche Vorstellung, daß Hildegard erst später, vielleicht ein Jahr nach der Vereinigung mit dem Vater, heiraten wird. Aus irgendeinem Grunde, der durchaus gutzuheißen ist, der aber im Dunkel bleibt, entschließt sie sich schon jetzt zu der Verbindung, und der Zufall will es (oder ist eine geheimnisvoll feierliche Absicht dabei im Spiel?), daß die Hochzeit wenige Tage nach seiner Entlassung stattfindet. Ja, es scheint fast, als ob die Entlassung auf solche Weise festlich begangen werden soll. Er kann aber zur Trauung in der Kirche nicht mehr zurechtkommen. Als er das Haus betritt, wo ihn das junge Paar erwartet, sind die Gäste vollzählig versammelt. Sein Erscheinen verursacht beträchtliches Aufsehen. Diener wispern und eilen hin und her. Man nimmt ihm Mantel und Hut ab, weist ihm den Weg, zwei Flügeltüren öffnen sich. Ein mit Herren und Damen gefüllter Saal. Alle Gesichter wenden sich ihm zu. Staunen, Ergriffenheit, Mitleid, Respekt ist in allen Mienen zu lesen. Eine Musikkapelle, die bis zu dem Augenblick gespielt hat, bricht ab, Schweigen entsteht wie auf dem Theater, wenn ein verloren Geglaubter nach vielen Jahren und schweren Schicksalen in den Kreis der Seinen, der Freunde zurückkehrt. Ein Greis mit langem, gelblichem Bart, er hat eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Wärter Klakusch, sieht aber sehr aristokratisch aus, geht auf ihn zu, verbeugt sich vor ihm und reicht ihm die Hand. Maurizius bringt kein Wort über die Lippen, er ist zu bewegt. Sein Blick wandert suchend umher: wo ist sie? wo ist Hildegard? Da hört er einen leisen Aufschrei vom Ende des Saals, der ganzen Hochzeitsgesellschaft bemächtigt sich freudige Erregung, inmitten der Gäste bildet sich eine Gasse, eine Gestalt im weißen Brautkleid, mit wehendem Schleier und ausgestreckten Armen, fliegt jubelnd auf ihn zu, er hält sie, er preßt sie an sich, den warmen liebenden Leib fest an seine Brust, das beglückte Gesicht fest an seine Wange . . .Jetzt kann noch alles gut werden. Man kann vergessen. Man ist verwandelt und erneut . . .
    Sekunde um Sekunde fällt lautlos in die Ewigkeit wie gelockerte Steine in einen Abgrund. Sie haben achtzehn Jahre und sieben Monate das gleiche getan und liegen in der unfaßbaren, finstern Tiefe unten, ein Haufen Schutt. Der Tag bricht an.
    4

    Er verabschiedet sich vom

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