Der Fall Maurizius
dunkel. Es mochten zehn Minuten verflossen sein, er hatte sich noch nicht entschließen können, die Gasflamme abzudrehen, da scharrte es an der Tür, gleich darauf wurde sacht geöffnet, und von ihrem absurden, grünen Tuch umhüllt wie ein Flaggenmast von der Flagge stand Melitta auf der Schwelle. Die überschritt sie nicht, sah nur von dort aus zu Etzel hinüber mit einem spähenden, gespannten, intensiven Ausdruck. Etzel bewegte ein wenig den Kopf gegen sie und erwiderte den Blick: »Haben Sie gehört?« flüsterte er. – Sie nickte. – »Alles? haben Sie alles gehört?« wiederholte er flüsternd; es war nicht recht einzusehen, warum er nicht laut redete. – Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und antwortete: »So ziemlich.« – »Das ist gut«, sagte Etzel. Weiter nichts. – »Es kommt 'n Gewitter«, sagte das Mädchen. In diesem Augenblick machte das mechanische Klavier eine seiner Pausen, und in der Tat hörte man leisen Donner über die Dächer grollen. Melitta schloß die Tür wieder. Etzel stellte sich im Bett aufrecht und schraubte das Gaslicht ab. Er wickelte sich in die Bettdecke, seufzte vor sich hin, sagte zu sich selber »Gut Nacht, E. Mohl«, schlief sofort ein und schlief fest und ruhig wie ein kleines Kind. Als er am Morgen erwachte, knipste er eine widerlich angesogene Wanze von seinem Ärmel, atmete tief auf und sagte: »Gut Morgen, E. Andergast.«
Es war sieben Uhr, er sprang aus dem Bett und fing an, seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Drei Stunden später war er auf dem Bahnhof.
Fünfzehntes Kapitel
1
In der Kanzlei befand sich ein junger Staatsanwalt, der für einige Wochen im Gefängnisdienst tätig war. Er hatte die Aufgabe übernommen, den Sträfling Maurizius von der auf dem Gnadenweg verfügten bedingungsweisen Entlassung zu verständigen. »Nehmen Sie an?« fragte der Staatsanwalt, nicht ohne leise Neugier, die sich aber auf den Mann, nicht auf die Antwort bezog. – Maurizius, strammstehend, schluckte Luft. »Welche Bedingung hat man im Auge?« – »Das ist nicht ausdrücklich vermerkt.« – »So könnte mich ein beliebiger Vorwand wieder zum Gefangenen machen?« – »Ich denke, es ist eine Formalität. Wenn Sie sich entsprechend führen . . .« – »Sie wollen sagen, wenn ich den Gerichten keine Unannehmlichkeiten bereite.« – »Ich habe in der Hinsicht keine Instruktionen.« – »Auf welche Frist erstreckt sich die Bedingung?« – »Auf anderthalb Jahre. Genau bezeichnet: ein Jahr fünf Monate. Bis zur Vollendung des zwanzigsten Strafjahres.« – »Es kann also geschehen, wenn ich das Mißfallen der Staatsbehörden errege, daß ich diese siebzehn Monate nachsitzen muß?« – »Theoretisch, ja. Aber wie gesagt, es ist eine Formalität.« – »Und wenn ich mich jetzt weigere, erfolgt dann in siebzehn Monaten die Entlassung bedingungslos?« – »Ohne Zweifel«, erwiderte der junge Staatsanwalt verlegen und etwas ärgerlich. Bei dem Wort von der Weigerung blickte der Vorsteher Pauli verdutzt auf, der hinter ihm stehende Inspektor schüttelte bedächtig den Kopf. »Man will also eine Handhabe gegen mich behalten?« murmelte Maurizius. – »Nehmen Sie an oder nicht?« fragte der Staatsanwalt scharf und deutete auf ein Dokument, das zur Unterschrift auf dem Tisch bereit lag. Den aufgeregten Schreiber hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er erhob sich und starrte Maurizius gierig an. Dieser rührte sich nicht. Seine Backenknochen wurden ziegelrot. Über die eine Schulter lief ein Beben. Er öffnete den Mund, aber er konnte nicht sprechen. Alle sahen ihn an. Auf einmal machte er eine Bewegung, als wolle er hinstürzen. Er hatte aber nur zum Tisch treten wollen, an dessen Kante er sich festhielt. Der Schreiber reichte ihm die Feder. Maurizius tauchte sie ins Tintenfaß, betrachtete sie einen Augenblick verstört, sodann schrieb er seinen Namen auf das Papier, dorthin, wo der Schreiber den Zeigefinger streckte. Ein Atemlaut aus vier Kehlen strich wie leiser Wind durch den Raum. »Morgen früh um acht können Sie abreisen«, sagte der Vorsteher, »um sieben wird Sie der Kammeraufseher zum Einkleiden holen.« – »Ich bitte um die Erlaubnis, meinem Vater telegraphieren zu dürfen«, würgte Maurizius hervor. – Der Staatsanwalt und der Vorsteher tauschten einen bedenklichen Blick. »Es wäre uns lieber, Sie unterließen es«, sagte der Staatsanwalt, »wir möchten alles überflüssige Aufsehen vermeiden.« – »Aber ich werde mich draußen nicht zurechtfinden . .
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