Der Fall Maurizius
.« – Der Staatsanwalt lächelte. »Das gibt sich. Wenn Sie mal auf dem Bahnhof sind, du lieber Gott . . .« – »Sie können ja Ihrem Vater depeschieren, daß Sie morgen im Lauf des Tages bei ihm sein werden«, schlug Pauli in einer Regung von Mitleid vor, »wir möchten nur nicht, daß er hier erscheint und daß dadurch die Stunde Ihrer Entlassung bekannt wird. Die Zeitungen machen dann sofort eine Sensation daraus.« – Maurizius erwiderte: »Dann verzichte ich lieber.« Der Wärter, der ihn in die Zelle zurückbrachte, der mit dem Trinkergesicht, fragte gnädig: »Na, wie is Ihnen denn zumut?« Als ihn Maurizius entgeistert anstarrte, räusperte er sich und trottete davon.
2
Um acht Uhr früh . . . Noch fünfzehn Stunden. Wie soll man die durchleben? Er schaut die Mauer an, er schaut die schwarze Ofenröhre an. Er macht ein paar Schritte und sagt sich vor, daß währenddessen Zeit vergangen ist. Er befühlt mit den Händen seine Bartstoppeln und denkt darüber nach, ob er sich heute noch rasieren lassen könnte. Man würde es sicher bewilligen. Es verginge Zeit. Er will es überlegen. Damit vergeht wieder Zeit. Er faßt den Tisch an und trägt ihn zwei Meter nach links. Stellt den Stuhl davor. Warum er es tut, ist ihm unklar. Er setzt sich, schlägt die Rothenburger Chronik auf und liest: 1659, 4. April haben die Burger auf 2 Scheiben in der alten Burg geschossen sind mit Trommel und Pfeifen hinausgezogen eine Corporalschaft. Er rechnet: 1659, das sind zweihundertachtundsechzig Jahre, also werden vierzehn dreiviertel Stunden zu überstehen sein. Wenn man die Lider zudrückt und die Daumen fest an die Schläfen preßt, kommt ein Moment, wo man plötzlich den schnellen Gang der Stunden spürt, er hat das oft erfahren. Heute versagt das Mittel gänzlich. Was ist Geduld? Das Verebben des Blutes. Vergessen, daß man will, das ist Geduld. Unglücklicher Mensch, du willst also wieder? Er steht auf und schleppt den Tisch ans Fenster, dann den Stuhl, nimmt wieder Platz, liest: 29. Juli hat man eine frembte Magd, bey 20 Jahr alt, sampt ihrer Mutter (weil die Tochter auß dem Geheiß ihrer Mutter H. Dan. Rückern, Spital-Caplern, bei dem sie ¾ Jahr gedient, bey 100 Rthl. an Geld gestohlen) an Pranger gestellt und durch den Henker zur Stadt außgeführt und des Lands verwiesen, die Tochter hat erbärmlich geschrieen und geweinet, das schnöde Geld hat wieder hingewollt, wo es ist herkommen, auß dem Krieg, Rücker war Feldprediger bey Bernhard von Weimar. – Entlegene Zeit, verrolltes Rad, längstverseufzter Menschenschmerz.
Er schlägt das Buch zu. Ihm graut plötzlich davor, in die Vergangenheit zu blicken, Vergangenes zu erfahren. Alles Gewesene ist Kerker, das Kommende ist grenzenloser Raum. Aber wo beginnt das Kommende? Erst wenn vierzehneinviertel Stunden wie schwerbeladne Packpferde vorübergekeucht sind, oder jetzt? mit jedem einzelnen Jetzt? Und dieses Jetzt: das, was zwischen Herzschlag und Herzschlag liegt, oder zwischen Sekunde und Sekunde, sechsundachtzigtausendvierhundert Stationen der Ödigkeit und der Verzweiflung jeden Tag. Nun gibt es ja wieder ein Morgen. Er flüstert das Wort mit zaudernden Lippen: morgen. Es ist wie der weißglühende Lichtpunkt, wenn man durch einen Tunnel fährt, langsam, unsäglich langsam breitet er sich aus, dehnt sich der Kreis, mildert sich die Glut, langsam, ganz langsam, trotz der rasenden Geschwindigkeit des Zuges. An das Morgen kettet sich ein andres Morgen, ein drittes, viertes, fünftes, jedes Jetzt wird ein Damals, jedes Ist ein War. Er geht herum, er geht herum. Dreizehneinhalb Stunden. Er geht herum, er geht herum, zwölfeinviertel Stunden. Er zählt seine Schritte. In der grauen Dämmerluft der Zelle hängt ein Gebilde, sieht aus wie eine Blume aus purpurnem Stein. Das Morgen. Kristallnes Morgen. Das unerwartbare, unsinnig beglückende, von unsinniger Bangigkeit umschauerte Morgen . . . Wege. Straßen. Tore. Hinschreiten. Der Himmel: eine unbeschnittene Wölbung. Türme. Bäume. Gärten. Eine Frau . . . Er schlägt die Hände zusammen, Schrecken rinnt durch alle Glieder: eine Frau . . .
Elfeinhalb Stunden. Er wirft sich auf das eiserne Bett und gibt sich der qualvollen Süßigkeit eines Traumes hin, den er mit offenen Augen träumt.
3
Es gibt, so traumdichtet er, ein Herz in der Welt, das sich nach ihm sehnt. Hildegard, unter fremden Menschen aufgewachsen, erwartet den Tag der Vereinigung mit dem unbekannten Vater. Bis zu ihrem fünfzehnten Jahr hat man
Weitere Kostenlose Bücher