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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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eine Idee? Eine von ihm selbst erschaffene leere Form? Figur, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die er sich nur in einer Illusion von Zugehörigkeit einbildet? Zum erstenmal regt sich solcher Zweifel, er stößt ihn entsetzt von sich, als hätte er etwas Heiliges besudelt. (Woher aber eine Zuversicht, für die er nicht die geringste tatsächliche Unterlage besitzt, da er sich doch im Gegenteil sagen muß, daß man alles aufgeboten haben wird, das Kind von jeder äußeren und inneren Verbindung mit ihm abzuschneiden, was bei der ganzen Lage der Dinge auch keine besonderen Schwierigkeiten gehabt haben kann? Die Lösung des Rätsels liegt dort, wo die Menschennatur aufhört, berechenbar zu sein, und von dunklen Urkräften umschlungen in ein Leben hinter dem Leben flüchtet.)
    Er zieht an der Klingel. Eine steinerne Minute verstreicht. Im Hof miaut kläglich eine Katze. Schritte hinter der Tür. Brummige Frage, die Tür wird geöffnet, Vater und Sohn stehen voreinander. Der Alte starrt, erstarrt. Sein Gesicht wird zinnoberrot, die Gestalt schwankt nach vorne, die Arme langen nach dem Türpfosten. »Hab's schon gewußt«, bringt er röchelnd hervor, » . . . in der Zeitung gelesen . . . dachte nicht, daß du heut schon . . .« Das übrige erstickt in einem Schluchzen. Es klingt wie heiserer, angestrengter Husten, er bedeckt auch das Gesicht nicht dabei, aus den astigmatischen Augen sickert das Wasser. Leonhart Maurizius bleibt seltsam kühl. Seine Züge bewahren den strengen, beinahe finstern Ausdruck. Warum bin ich nicht gerührt? denkt er, während er den Alten am Arm ins Zimmer geleitet. Er sieht sich um. Die Traurigkeit und Ärmlichkeit der Behausung jagt ihm unbestimmten Schrecken ein. Er hat noch nicht über seine künftigen Lebensbedingungen nachgedacht. Er hat den Vater keineswegs für reich gehalten, er hat zudem im Zuchthaus gehört, daß nicht nur wohlhabende, sondern auch mittelmäßig begüterte Leute in den letzten Jahren durch Entwertung des Geldes völlig verarmt sind; es hat den Anschein, als habe dieses Schicksal auch den Alten getroffen, sonst hätte er kaum seine Zuflucht in einem derartigen Loch suchen müssen. Damit schieben sich, in fliegenden Überlegungen, Existenzprobleme in den Vordergrund, die eine lastende Bedrückung in ihm zu rinnender Angst verflüssigen, es bedeutet, auf Menschen angewiesen sein, sich an Menschen wenden, es heißt, Rede stehen müssen, Gnaden hinnehmen müssen, die zerteilten kleinen Gnaden nach der schändlichen großen, der er die Freiheit verdankt, diesen unsäglich ersehnten Zustand, den er fortwährend an sich wahrzunehmen und zu verwirklichen bemüht ist, ohne über ein dumpfes Wissen von ihm hinauszugelangen, nicht anders als wie man im Schlaf von dem Raum weiß, in dem man schläft. Was er während der Sträflingshaft in all den Jahren an Arbeitslohn erspart, hatte er bis auf fünfzig Mark in großmütiger Wallung dem Gefangenenhilfsdienst überwiesen, eine geringfügige Summe zwar, doch über den Anfang hätte sie ihm geholfen, hier scheint die blanke Not zu walten.
    Die Sorge ist grundlos, wie er schon in der nächsten Viertelstunde erfährt. Lange betrachtet ihn der Alte in verlorener Anbetung. Die ledernen Wangen unter den grauen Backenbartbüscheln zucken immer noch, die rechte Hand hält den steifen linken Arm gepackt, zu sprechen vermag er nicht. Leonharts Blick gleitet zum Tisch hinüber, dort liegt eine Unmenge von Papieren, daneben ist die Zeitung aufgeschlagen, auf der inneren Seite prahlt fettgedruckt das Telegramm, das der Welt seine Entlassung verkündigt. Quer darüber steht in ungelenken, großen Buchstaben mit Blaustift geschrieben: Gelobt sei Jesus Christus. Der Blaustift liegt noch auf dem Zeitungsblatt. Das ergreift ihn spontan, eigentlich weit mehr der Blaustift als die vier Worte, es ist etwas Sonderbares um die Dinge, wenn sie in ihrer Ruhe noch einen Abglanz von beseeltem Menschentum an sich haben. Jetzt faßt sich der Alte, er deutet auf die Papiere und sagt so trocken wie möglich: »Das ist dein, das alles ist dein.« Auf diesen Augenblick hat er gewartet seit Jahren und Jahren, von ihm hat er geträumt, nun steht er da wie ein schüchterner Liebhaber, der sich vor Ungeduld verzehrt, der Geliebten das kostbare Geschenk in die Hände zu legen, das für ihn Inbegriff und Ausdruck seiner Liebe ist. Sofort gerät er in eine hastige, beinahe humorige Geschäftigkeit, blättert, erklärt, nennt Ziffern, da ist der Kontoauszug, da sind die

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