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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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ist er verdammt worden, unwiderruflich hat er die Strafe verbüßt, unwiderruflich soll er weiterleben, das ist aber nicht möglich; unter dem Druck des Unwiderruflichen kann man nicht leben, daher erzwingt sein Wille die kleinen, gemeinen, zerstückten, das Lebensgesetz aufhebenden Widerruflichkeiten, rachsüchtige Reaktion der Natur. So wird er ein Losgelassener, ein Gesetzloser, vogelfrei vor dem eigenen Bewußtsein. Er grübelt unablässig darüber nach, wie man dem ein Ende machen kann, es ist ein Zwiespalt, der sich an der Grenze des Wahnsinns bewegt, bisweilen blitzt ihm ein rettender Gedanke auf, er glaubt einen Weg zu sehen, dorthin, wo er nicht widerrufen kann und wo die schicksalhafte Unwiderruflichkeit zu einer schicksallosen wird. Es wäre ein Weg, zum Gesetz zurückzufinden, zum höchsten, das keinen Sterblichen verstößt, dazu müßte er schon ein Ahasver sein.
    Er packt wieder, reist ins Gebirge. Wandert über Pässe, durch Täler, nächtigt in weltverlorenen Gasthäusern, abseits vom Schwarm der Bummler und Touristen. Keine Landschaft spricht zu ihm, keine Wiese duftet ihm, Wald, Schneegipfel, nichts zwingt den Blick empor. Er fühlt nicht Schauer, nicht Freude, nicht Neugier, nicht Lockung. Er setzt sich wieder in die Eisenbahn. Fährt, fährt, fährt, logiert in irgendeinem Hotel, packt abends aus, packt morgens ein, fährt, fährt, fährt. Eine Stadt. Wieder eine Stadt. Dome, Brunnen, Denkmäler, Säulenhallen. Es macht keinen Eindruck. Es könnte ein mäßig interessantes Bilderbuch sein. Die Säle im Pitti, Tizian und Tintoretto in Venedig, die Pinakotheken in München. Nichts. Einstmals hat es ihn hingerissen. Es war Farbe, Seele, Kern des Daseins. Die Apostel von Dürer: langweilige alte Männer. Das Figürchen in Kassel, nach dem er sich gesehnt: eine mit Schimmel überzogene Bronze. Nichts regt sich in ihm. Die Dinge, die Werke, die Welt: gemordet. Alles rückt beständig weiter weg. Er gewahrt das Gruppenhafte der Menschen, das Schichten- und Massenhafte. Einrichtungen. Die unheimliche Distanz befähigt ihn, Wandlungen festzustellen, die dem Einbezogenen entgehen. Nicht bloß die Sprache hat sich verändert, ihre Modulation, die Bedeutung der Worte, auch die Gesichter haben nicht mehr denselben Ausdruck wie vor zwanzig Jahren; der Unzufriedene zeigt eine andere Unzufriedenheit, der Erstaunte ein anderes Erstaunen, der Zornige einen andern Zorn. Die Augen sind starrer, aufgerissener, schleierloser, das Lachen klingt krampfiger, der Gang ist zielgieriger, die Haltung der meisten Männer hat etwas vom Jäger mit der Flinte im Anschlag. So war es damals nicht. Das Ganze ist nach einer andern Richtung gelenkt, gehorcht neuen Bindungs- und Bewegungsgesetzen. Sie haben eine andere Haut, andern Wuchs, anderes Tempo, Mittel der Verständigung, die er noch nicht kennt, Arten der Liebe und Arten des Hasses, durch die er sich ausgeschieden findet wie ein Fremdkörper, Tänze und Lustbarkeiten, bei denen ihm manchmal zumut ist wie Gulliver in Brobdignag. Die alten Leute dauern ihn, die jungen flößen ihm einen sonderbaren Schrecken ein; als kleiner Bub hat er ein ähnliches Gefühl gehabt, als er zum erstenmal in einer öffentlichen Badeanstalt war und sich nackt ausziehen sollte. Gulliver in Brobdignag, oder besser noch Bergmann, der im Schacht vergessen worden ist und fünfhundert Jahre in Nacht und Starrkrampf zugebracht hat. Wenn er wieder an die Oberwelt gelangt, ist er unter Millionen Menschen beispiellos allein und weiß von Himmel, Luft und Erde die Vokabeln nicht mehr.
    Eines Tages fährt er von Hannover nach Berlin. Sein Gegenüber im Abteil ist eine sympathisch aussehende Dame von etwa dreißig Jahren. Sie ist geschmackvoll gekleidet, ihr Betragen ist zurückhaltend, sie hat eigentümlich weiche Züge, eigentümlich verhängten Blick, ein eigentümlich spöttisches, dabei gütiges Lächeln um den weichen Mund. Am anziehendsten sind ihm ihre Hände, die sich fortwährend ganz langsam bewegen, bald indem sie sich falten, bald indem sie aneinander entlanggleiten, bald indem sie eine Zigarette anzünden, bald indem sie, bei gekreuzten Armen, auf den Ellbogen ruhen. Darin verkündet sich etwas wie Wunsch und Lebenslast. Es sind weiche, weiße Hände mit geraden zugespitzten Fingern. Er kann nicht aufhören, sie zu betrachten, zu studieren, und die junge Frau lächelt ihr spöttisch-gütiges Lächeln. Sie geraten ins Gespräch. Obwohl keinerlei Mitteilung von irgendwelchem Belang geschieht,

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