1183 - Visionen der Hölle
In der Regel waren das die dummen Sprüche irgendwelcher Aufreißer. Aber Doria war bei Quint vorsichtig geworden. Dieser Mensch nahm sich, was er wollte.
Den dünnen Hausmantel aus Seide hatte sie fallen gelassen. Er war das Geschenk eines Liebhabers gewesen, der nicht mehr am Leben war. Seine Schuld. Er hatte sich zu nahe an sie herangewagt. Nur noch der Hausmantel ließ die Erinnerung an ihn weiterleben. Jetzt lag er zwischen Tür und Stuhl. In seiner blassen Farbe sah er aus wie ein abgestürzter Geist.
Doria hatte das Licht eingeschaltet, aber nicht alle Lampen brannten. Nur die beiden vor ihr an der Wand, die den großen ovalen Spiegel umrahmten. Die Lampe an der Decke blieb dunkel. Doria brauchte sie auch nicht, denn für sie war nur dieser eine wichtig.
Künstlergarderoben sahen irgendwie alle gleich aus. Dennoch gab es in dieser einen gravierenden Unterschied. Der betraf den Spiegel.
Er hing nicht an der Wand, wie es sonst üblicherweise der Fall war. Dieser hier war in eine Kommode integriert. Er bildete praktisch die Rückseite und wuchs vor der Wand in die Höhe. Die Kommode selbst hatte eine geschwungene Form. Sie wirkte deshalb recht zierlich, und in einer Schublade steckte all das, was Doris für ihren Auftritt benötigte. Der Flitter, die Farbe, die Schminke.
Sie sah gut aus. Sie war so etwas wie ein Schuss. Sie war groß und besaß eine tolle Figur. Jedenfalls wurde ihr das nachgesagt, und sie selbst war ebenfalls damit zufrieden. Ihr Haar konnte man auch als rotblonde Mähne ansehen, die weit bis über die Schultern floss. Sie passte auch zu der hellen Haut und zu den üppigen Kurven, die Doria in ein helles Korsett eingezwängt hatte, wobei einige Haken am Rücken offen standen.
Fast jeder Mann, der sie so sah, wurde heiß. Sie war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst, und wenn Quint erschien, würde er durchdrehen. Er hatte sie schon immer so gierig angeschaut und schon an ihr herumgespielt. Auf ihre Warnungen war er nicht eingegangen. Im Gegenteil, der Widerstand hatte ihn noch wilder gemacht.
Noch trug sie die hochhackigen Schuhe und auch die hellen Strümpfe, die sich um die Oberschenkel schmiegten und von keinen Strapsen gehalten wurden.
The Body!
So wurde sie ebenfalls genannt. Im Club war man wild auf sie. Ihr Tanz war das Allerhöchste. Er verzauberte Menschen und verschaffte ihnen sogar Visionen, an die sie sich später aber kaum noch erinnerten. Schreckliche Szenen bekamen die Zuschauer zu sehen. Monstren, Blut und den Tod in verschiedenen Variationen.
Doria lächelte, als sie daran dachte. Sie kannten sie nicht. All die Leute, die ihretwegen kamen, wussten nichts, gar nichts. Und wenn sie etwas gewusst hätten…
Sie ließ den Rest unbeantwortet und lächelte nur auf eine rätselhafte Art und Weise.
Vor dem Spiegel stand ein Stuhl aus Birkenholz. Ebenso geschwungen wie der Spiegel. Genau passend. Er stammte aus der gleichen Zeit und war mehr als 150 Jahre alt.
Mit einer grazilen Bewegung nahm Doria Platz. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie war damit zufrieden. Es war fraulich und kindlich zugleich. Manche verglichen es mit dem Gesicht eines deutschen Supermodells, und damit war sie voll und ganz einverstanden.
Sie schaute sich ihre Haut an.
Glatt war sie, sehr glatt. So gut wie faltenlos. Nichts störte dieses klare Gesicht. Doria wusste selbst, wie alt sie war, doch es war einer fremden Person so gut wie unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Was immer sie sagte, sie lag falsch. Selbst Doria war sehr unsicher, weil sie gewisse Dinge nicht begreifen konnte. Nicht nur, was ihre Person anging, sondern auch, was ihre Herkunft betraf.
Beim Blick in den Spiegel konzentrierte sie sich auf ihren Mund mit den vollen Lippen. Sie waren ebenfalls eine Reizzone an ihrem gesamten Körper. Besonders für Männer, aber auch Frauen wurden manchmal von ihrer Ausstrahlung angezogen, sodass sie völlig durcheinander gerieten und sich verändert vorkamen.
Doria war noch nicht geschminkt. Trotzdem konnte sie sich sehen lassen. Ohne Schminke besaß ihr Gesicht den noch kindlichen Touch, auf den sie so stolz war. Oft genug hatte sie damit schon Erfolg gehabt und alles bekommen, was sie wollte.
Sie lächelte sich zu.
Das Gesicht im Spiegel lächelte zurück.
Sie schaute sich ihre Augen an.
Hell waren sie, aber nicht farblos. Das Blau hatte eine bestimmte Farbe, die man mit der eines Himmels an der Küste vergleichen konnte. Es war auch nicht unbedingt hart, weil nicht die entsprechende
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