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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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zur Rie, er gehe ins Kino, sie möge ihm ein belegtes Brot auf seinen Tisch stellen; wenn er später heimkomme, solle sie ihn nicht verraten, bis acht sei er jedenfalls wieder da. Es wurde aber beinahe neun Uhr, da er den alten Maurizius nicht gleich in seiner Wohnung traf, erst als er nach einer Stunde zum zweitenmal hinging. Ein Hausbewohner sagte ihm, der Alte sei in der Wirtschaft zum Hasen, um die Ecke, Etzel schaute zu den Fenstern hinein, erblickte aber den Gesuchten nicht. Er patrouillierte vor dem langgestreckten Gebäude in der Marktgasse auf und ab; und es war schon sechs Uhr, als er den Mann mit der Kapitänsmütze endlich kommen sah. Die Wohnung des Alten befand sich im Hoftrakt, man mußte auf einer hühnerleiterähnlichen Stiege, die außen an der Mauer angebaut war, den ersten Stock erklimmen, dann ging es auf einer engen Holzgalerie bis zu einer Tür, die unmittelbar in zwei ungemütliche Stuben führte. Neben der Tür war ein Klingelzug, unter dessen Handgriff ein Messingschild mit der Inschrift »P. P. Maurizius, Gutsbesitzer a. D.« befestigt war. Bei der Begegnung auf der Straße hatte Etzel den Hut vor ihm abgenommen, doch Maurizius hatte den Gruß nicht beachtet, offenbar geschah es selten, daß ihn jemand grüßte, er hatte wohl wenig Bekannte in der Stadt. Etzel folgte ihm in den Hof, wartete, bis er auf der Galerie oben verschwunden war, dann ging er ihm nach, pochte leise an der Tür, da sich nichts rührte, zog er an der Klingel, hörte aber kein Signal, die Glocke schien zu fehlen, nun klopfte er herzhafter, worauf der Alte endlich öffnete. Mißtrauisch musterte er den Besucher. Ohne Kopfbedeckung sah er so verändert aus, daß Etzel anfangs dachte, es sei nicht derselbe Mann. Der Schädel erinnerte in seiner Schmalheit an einen Flintenkolben, durch ein paar spärliche, mehlweiße Borsten leuchtete abschreckend eine rote Beule wie ein Glühlicht. Es ist ungewiß und ließ sich auch nie feststellen, ob er den jungen Menschen, den er ein paar Tage lang so hartnäckig verfolgt hatte, beim ersten Anblick wiedererkannte. Aus seiner Miene war es nicht zu entnehmen. Etzel sagte: »Ich möchte mit Ihnen sprechen«, und der Alte lud ihn ein, ins Zimmer zu treten, wortlos, nur mit einem Brummen und einer Handbewegung. Drinnen nannte Etzel seinen Namen, Maurizius nickte, schien keineswegs erstaunt; man hätte denken können, Etzel sei ein täglicher Besucher. Der Alte deutete mit dem steifen linken Arm auf einen Stuhl, nahm eine blecherne Tabakschachtel aus der Tischlade und begann die kurze Pfeife zu stopfen. An der Ausstattung des Zimmers war nichts Auffälliges, es war eine Kleinbürgerstube mit Tisch, Kommode, Kleiderschrank, schräg hängendem Spiegel, alles billige Basarware; das einzige Besondere waren Stöße von alten Zeitungen auf einem rohen Bretterständer, zwei bis drei Dutzend mit Bindfäden verschnürte Pakete, die an der Seite mit Blaustift beschriebene Zettel trugen: 1905, 1906, 1907; Voruntersuchung, Verhandlung erster Tag, Verhandlung zweiter Tag usw., ausländische Stimmen, juristische Gutachten, psychiatrische Gutachten und so weiter. Auch Broschüren waren darunter, sämtliches gedruckte Material, wie sich bald ergab, über das Verbrechen und den Prozeß seines Sohnes.
    »Hab ja mal wieder eine Eingabe gemacht«, begann Maurizius, indem er sich auf dem mit schwarzem Wachstuch bezogenen, an den Rändern mit weißen Porzellannägeln versehenen Wandsofa niederließ und unter krampfhaften Muskelzuckungen an seiner Pfeife sog, »damit sich die hohe Oberstaatsanwaltschaft nicht aufs Ohr legt. Freilich, es ist, wie wenn man in den Wind spuckt. Hat Sie wer geschickt, junger Herr? Oder kommen Sie von selber? Was, zum Teufel, hat Sie dazu bewogen? In früheren Jahren sind viele gekommen. Noch im Jahre neun ging's manchmal zu wie bei einem Modedoktor. Jeden Tag Audienzen. Schriftsteller, Advokaten, Spiritisten, Redakteure. Sogar aus Amerika. Seit zwölf, dreizehn Jahren ist's still geworden. Auch auf den Schlachtfeldern wird's still, wenn Frieden geschlossen ist, mag's noch so ein Scheißfrieden sein. Was wollen Sie, junger Herr? Soviel ich sehe, sind Sie ein verdammt junger Herr.«
    Seine Stimme erinnerte an das Gekrächz einer Krähe, doch sprach er nicht laut, nur einzelne Worte stieß er heiser bellend hervor und zog den Mund weit auseinander, so daß die graugrünen Backenbartbüschel, hinter denen die scheußlich nackten Ohrlappen starrten, direkt aus dem Rachen zu wachsen

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