Der Fall Maurizius
abstoßenden Eindruck machte und der Kontrast zu Etzels gemütlicher Stube für diesen nicht so fühlbar war wie für ihn selbst. »Ist was passiert?« wiederholte er, »du siehst für deine Verhältnisse so struppig aus . . .« Schon trat die unwillkürlich rücksichtnehmende Zärtlichkeit in seiner Stimme hervor, er nahm es zu seinem eigenen Verdruß wahr, die seine Beziehung zu Etzel von der zu jedem andern Kameraden unterschied.
Etzel holte Atem. »Ich bin schnell gegangen«, sagte er und setzte sich etwas schüchtern Robert gegenüber an den Tisch. »Ich wollte eine Sache mit dir besprechen. Das heißt, wenn du Zeit hast. Nicht viel, ich hab auch nicht viel, um fünf soll ich zu Haus sein. Nur . . . es ist eine verdammt heikle Sache . . . du mußt schweigen können, Thielemann. Hier hört uns doch niemand, wie?« Er sah sich forschend um. Seine Lippenwinkel zuckten wie bei einem Kind, dem man sein Spielzeug zerbrochen hat und das seitdem die Feindseligkeit der Welt erkannt zu haben glaubt. Es war immer so bei ihm, welches auch seine Erlebnisse sein mochten, und so gereift und entschlossen er sich auch dazu stellte, etwas in seinem Wesen wirkte achtjährig.
»Leg nur los«, sagte Robert, unsicherer, als er sich zeigen wollte, »Lauscher gibt's hier keine.«
Etzel, die flachen Hände zwischen die Knie gepreßt, dachte mit zusammengezogenen Brauen nach. Er wußte nicht, wie er beginnen sollte. Er beugte sich vor, und seine unfertige, nur in der Mittellage bereits männlich klingende Stimme möglichst dämpfend, sagte er, im allgemeinen sei es ihm zuwider, wenn Jungens über ihre häuslichen Angelegenheiten schwatzten, es sei die Art der Mädels. Aber da er momentan in einer verzwickten Lage sei und keinen näheren Freund habe als Thielemann, habe er den Plan gefaßt, sich an ihn zu wenden. Eigentlich wolle er nur Antwort auf eine Gewissensfrage haben. Es gelte nicht, etwas zu bedenken und lang und breit zu bequatschen, Thielemann solle nur nein oder ja sagen, ganz aus seinem Instinkt heraus. Es handle sich um seine Mutter. Es handle sich um das Verhältnis oder vielmehr nichtexistierende Verhältnis zwischen seinem Vater und seiner Mutter, das sich in der letzten Zeit zu einem peinlichen Konflikt für ihn selbst gestaltet habe. »Verstehst du, Thielemann?« fragte er mit einem hellen, freundlichen Blick. Robert zuckte zusammen. »Keine blasse Ahnung«, murmelte er mit einer Bewegung, als sei er unter das Wasser einer Dachtraufe geraten. Sein Gesicht wurde finster, er war auf solche vertrauliche Eröffnung durchaus nicht gefaßt und empfand sie wie Hohn, da er völlig unter dem Druck der Zwietracht in seiner eigenen Familie stand, der Bitterkeit über das jahrealte Übel, den Unfrieden, die Zerklüftung. Vater und Mutter, zwei haßerfüllte Parteien, jeder des andern Verächter, Verfolger, Verwünscher, jeder in trostloser Verblendung bemüht, auch die Kinder, die Söhne, zur Partei zu machen. Der Argwohn quälte ihn, daß Etzel von diesem unwürdigen Zustand unterrichtet und dadurch erst ermutigt worden war, auch seine häusliche Misere auszukramen, aus Mitleid gleichsam, und dagegen bäumte sich der kleinbürgerliche Stolz in ihm. So vertrackt arbeiteten seine angekränkelten Gedanken, so unordentlich sah es in seinem Gemüt aus. Zu seiner Entschuldigung ist allerdings zu bemerken, daß er eben nicht sonderlich intelligent war, nur gutherzig und entflammbar. Seine Augen hatten einen armen, hungrigen Blick, während er Etzel prüfend ansah; er konnte nicht vergessen, was draußen in der Wohnung sich vorbereitete; aber während er seine unruhig horchende Zerstreutheit zu beherrschen suchte, schwand das Mißtrauen gegen den Freund, und die Erwägung, daß Etzel heute zum erstenmal davon redete, rührte ihn plötzlich bis zu Tränen. »Werd es schon verstehen, Kleiner«, sagte er, »quetsch dich nur aus.«
Etzel nickte. »Hör zu«, sagte er. Er kennt seine Mutter nicht. Er hat auf direktem Weg nie von ihr gehört, auf indirektem nur das Dürftigste. Er weiß nicht einmal ihre Adresse, weiß nur, daß sie in Genf in der Schweiz wohnt oder bis vor kurzem gewohnt hat. Ob gesund oder krank, reich oder arm, allein oder nicht allein, weiß er nicht. Er weiß nicht, warum er nichts von ihr weiß und wissen soll. Er weiß nicht, ob sie schön oder häßlich, alt oder jung ist. Er hat kein Bild von ihr, weder ein inneres, da es zu lange her ist, daß sie aus seinem Leben verschwunden, und da jede Erinnerung, was er sich
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