Der Fall Maurizius
aus? Trostlos, ohne Frage. Sie leistet ihm Sekretärinnendienst, dafür wird er sie wahrscheinlich entlohnt haben; hat er das nicht, war es nur ideale Hilfe von ihrer Seite, so muß man erst recht an ein nahes Verhältnis glauben. Was sie allerdings strikt in Abrede stellt. Wer gibt ihr die Mittel zu ihrer Existenz, da sie doch das Leben einer Dame führt? Wer bezahlt das luxuriöse Quartier? Leonhart? Er hat es geleugnet. Waremme? Es ist nicht erörtert worden. So oder so, eine bedenkliche Situation, gewiß keine eindeutige. Aber weiter. Da sie die Veranlasserin des Zerwürfnisses zwischen den Ehegatten ist und es unbedingt wissen muß, auch wenn sie sich schuldlos fühlt und vermutlich nicht am wenigsten darunter leidet: warum bleibt sie? Wenn sie den hartnäckigen Verfolger verabscheut, warum empfängt sie ihn immer wieder? War sie des Menschen überdrüssig, der ihren Ruf gefährdet, warum zeigt sie sich mit ihm an öffentlichen Orten? Wenn er im Haus der Schwester, seiner Frau, sich zu schamlosen Angriffen hinreißen läßt, so daß sie vor Verachtung und Empörung außer sich gerät, warum nimmt sie den Verkehr mit ihm wieder auf? Telephoniert, besucht seine Vorlesungen, hat seine Photographie mit einer, wie man gestehen muß, recht stürmischen, recht unmißverständlichen Widmung im Schreibtisch liegen? Sie hat sich seiner nicht zu erwehren vermocht, behauptet sie, hat quasi gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, damit er nicht vollkommen den Kopf verliert und sie, Elli, sich selber in seiner Raserei ins Verderben reißt. Ist das plausibel? »Damals schien es uns plausibel genug. Herr des Himmels, ein neunzehnjähriges Kind, unerfahren bis zur Mitleidswürdigkeit, oft verstricken sich gerade solche, gerade durch ihre tiefe Unschuld, möglicherweise schmeichelt ihr die von ihr entfachte Leidenschaft, sie wärmt sich an dem Feuer, das sie entzündet hat, wer kennt die Weiber . . .« Herr von Andergast schüttelt unwillig den Kopf. Es ist ein zu laxer Standpunkt, will ihn dünken. Sie hätte die Stadt verlassen müssen; den Vorwurf kann man ihr nicht ersparen, daß sie blieb, der verbrecherischen Begierde täglich frische Nahrung bot, lieber hätte sie bei Nacht und Nebel davonlaufen sollen, lieber ins Ungewisse, lieber in die Armut, als noch länger die tödliche Zwietracht der Eheleute schüren, unfreiwillig, nehmen wir an. Aber wie, wenn sie doppeltes Spiel gespielt hat? Wenn die beiden Männer bloß Schachfiguren für sie waren? Oder wenn . . . gehen wir in den Unterstellungen bis zur letzten ausdenkbaren Möglichkeit, wenn sie mit Waremme im Einverständnis gewesen ist, die Entwicklung planmäßig zur Katastrophe getrieben hat? Ist eine solche Hypothese zulässig? Nein. Sie ist nicht zulässig. Sie ist auf keine Weise zulässig. Es ist eine abgeschmackte, eine romanhafte Hypothese. Mit derartigem Anwurf trauten sich damals die frechsten Verleumder nicht heraus, davor scheuten sogar die geschäftigsten Reinwascher des unseligen Maurizius zurück. Immerhin, lassen wir uns mal an diesem Zwirnsfaden in den Abgrund hinunter, setzen wir den Fall, es wäre so gewesen, da hätten doch die beiden sicher sein müssen, daß die achtzigtausend Mark, die Elli im Vermögen hatte, denn um die konnte es sich dann nur handeln, daß die der Anna Jahn zufielen. Wie war das mit dem Testament? Herr von Andergast beschließt, sich über das Vorhandensein und den Wortlaut des Testaments zu orientieren. Allerdings, gab es ein Testament nicht, und war der Ehemann als Mörder der Erblasserin wegen Erb-Unwürdigkeit von der Erbschaft ausgeschaltet, so war die Schwester, da die Ehe kinderlos geblieben, die rechtmäßige Erbin. Doch so weit können wir uns nicht versteigen. So tief in den Abgrund hinunter: nein. Da hätten sie in einer Berechnung, die der menschlichen Voraussicht spottet, mit absoluter Gewißheit erwarten müssen, er werde den Hals so in die Schlinge stecken, daß der Strick nur noch zugezogen werden mußte, da hätte alles, Delikte, Indizien, Zeugen, alles hätte am Ende klappen müssen wie das Schlagwerk eines Chronometers. »Unsinn. Verdammter Unsinn. So was gibt es nicht. Davon hätten wir was merken müssen. So fein gewebt wird grob und fängt den Weber . . .«
Herr von Andergast blieb stehen. Über sein Gesicht breitete sich, entweder von der Anstrengung des Gehens unter dem Anprall des Sturms oder von der Wucht der ihn überfallenden Gedanken, eine ungesunde Röte aus, an der Stirn schwollen die Adern wie
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