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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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täuschen: das logische Maschenwerk klafft. Damit setzen die Erwägungen ein. Bis zu einem gewissen Grad will er es entschuldbar finden, das Material war erdrückend, vom ersten Augenblick an hat man nur die eine, einzige Richtung verfolgt, eine alte kriminalistische Erfahrung schreibt jedem Verbrechen seine besondere Suggestion zu. An Justizirrtum ist nicht zu denken. In dieser Sache nicht. Sollte sich ein Fehler in dem Gewebe zeigen, jetzt, nach so langer Zeit, so wäre unter der Hand zu recherchieren. »Auf keinen Fall ein offizieller Schritt.« Die Augen der Welt auf das verjährte, abgeschlossene Verfahren zu lenken wäre eine lästerliche Dummheit. »Wenn ich sage: die volle Wahrheit ist vielleicht noch nicht aufgedeckt, so habe ich schon zuviel gesagt. Vielleicht . . . nun ja . . . vielleicht . . . wir werden sehen . . .«
    Er kniff die Lippen zusammen und bohrte den Blick in die triefende Krone einer Ulme. Daß man den Gregor Waremme auch nach dem Urteilsspruch noch hätte beobachten sollen, wenigstens eine Zeitlang, will er zugeben, obschon das eine rein polizeiliche Maßregel gewesen wäre. Aber hätte man sich damals um das Nachher gekümmert, kümmern dürfen, so hätte man wahrscheinlich wünschenswerte Aufschlüsse über das Vorher seines Lebens erhalten. Dies letztere ist versäumt worden, unbegreiflicherweise, wie Herr von Andergast jetzt konstatiert, über die Vergangenheit des Mannes war nichts bekannt, sie wurde gar nicht erwähnt. Schließlich warum auch? Das Gericht jedenfalls hatte eine solche Verpflichtung nicht, auch das Interesse nicht. Dem Gericht ist der Kronzeuge kostbares Gut, seine Glaubwürdigkeit aus eigenem Antrieb zu erschüttern, wird es sich hüten. Mit Waremme, genau genommen, stand und fiel die Causa. Ohne ihn wäre man, namentlich bei dem starrsinnigen, dem vollkommen verrückten Leugnen des Täters, zu einem gedeihlichen Ende nicht oder nur schwer gelangt. (»Gedeihliches Ende« hieß natürlich: Schuldspruch und Aburteilung.)
    »Zweifellos, da sind schwache Punkte. Untersuchen wir in Ruhe die schwachen Punkte!« Herr von Andergast mäßigt seinen ungestüm ausgreifenden Schritt, um die schwachen Punkte zu sammeln. Es müssen ihrer mehr sein, als er vermutet, denn nach einer Weile pressen sich seine Lippen noch fester aufeinander. In dem Verhältnis Waremme–Anna Jahn fehlt jede befriedigende Aufklärung. Es muß sich zwischen ihnen bereits in Köln etwas ereignet haben, was auf ihre Beziehung einen Schatten geworfen hat. Das Einlernen der Rolle unter seiner Führung, ihre krankhafte Aversion gegen Theater und Theaterspiel noch ein Jahr später, niemand hat danach geforscht. Keine Andeutung, von welcher Beschaffenheit die Freundschaft war, ob sie eine erotische Grundlage hatte, ob an eine künftige Ehe gedacht war. Die eine Bemerkung gegen Elli Maurizius, er werde ihr binnen kurzem den schlagenden Beweis ihrer Unschuld erbringen, beweist nichts. Was bedeutete »Unschuld« in seinem Mund, was mochte ein Mensch wie dieser sich dabei denken? Man müßte wissen, wie sich die Dinge nach 1906 zwischen den beiden gestaltet haben. Aber da überzieht absolute Finsternis die Szene. Ist das Urteil gefällt, so verschwinden die Akteure vom Schauplatz. Das Gesetz kennt nur den Fall an sich, das erneute Leben hinterher darf es nicht antasten. »Was ich selbst als Privatperson weiß, darf ich nicht wissen.« Aber Herr von Andergast als Privatperson kennt nicht, notiert nicht das Tun und Lassen von Verurteilten und Zeugen, er verhält sich darin wie ein chemischer Stoff, der einen andern Stoff nur in einem bestimmten Aggregatzustand auf sich einwirken läßt. Er erwägt: Hätte eine mehr als freundschaftliche Intimität zwischen Waremme und der Anna Jahn bestanden, so wäre jener doch energischer gegen die Behelligungen aufgetreten, die sie von ihrem Schwager zu erdulden hatte. Andererseits besucht er sie ganz formlos in ihrer Wohnung, holt sie zu Festlichkeiten, zu sportlichen Unternehmungen ab, macht sich entschieden zu ihrem Kavalier und Beschützer. Räumt sie ihm dieses Recht nicht ein, so ist wieder unerklärlich, daß sie nach dem letzten schlimmen Auftritt mit Elli durch ihn bestimmt wird, in das Haus der Schwester zu ziehen, um sie zu betreuen, gewissermaßen in die Höhle des Löwen. Man müßte rein annehmen, daß sie des freien Willens beraubt war, um die krasse Schmähung, die sie von Elli erfahren, über Nacht zu vergessen. Und wie sieht es denn mit ihren Vermögensumständen

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