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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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wahrgenommen. Drängte es sich ihm gelegentlich einmal auf, so akzeptierte er es nicht, da er sich für verpflichtet hielt, es außer Betracht zu lassen. Es wäre mit den Grundsätzen unvereinbar gewesen. Es hätte die Richtlinien verschoben. Es hätte der Ordnung geschadet, der Regel widersprochen, und man hätte damit auf die »Direktiven« verzichtet.
    Allein wenn er jetzt zurückdachte, wollte ihn bedünken, daß er bei alledem auf ganz anderes Verzicht geleistet. Auf ein gewisses erlaubtes Wohlgefallen zum Beispiel. Vielleicht auf etwas, das man den Liebesentschluß nennen könnte. Es wollte ihn bedünken, daß er damit eine hinlänglich prägnante Bezeichnung gefunden habe für einen ihm eingefleischten Zustand sterilisierter Enthaltsamkeit. Es wollte ihn ferner bedünken . . . ja, was denn? was? Es war ja nun zu spät. Durchaus und in jeder Hinsicht zu spät . . .
    Siebentes Kapitel
    1

    Am letzten Tag der Woche, die mit dem Studium der Maurizius-Akten begonnen hatte, kam Herr von Andergast zur Teestunde nach Hause und vernahm, als er über den Korridor ging, leises Sprechen aus Etzels Zimmer. Die Tür war halb offen, er blieb stehen und sah drinnen seine Mutter, die am Tisch saß, und ihr gegenüber die Rie. Sie hatten die alten Aufsatzhefte Etzels vor sich liegen, die Rie hatte sie wohl aus den Schubladen und Regalen zusammengesucht, die Generalin blätterte darin, las hie und da ein paar Zeilen und machte mit halblauter Stimme zuweilen eine Bemerkung. Vielleicht hoffte sie, in den Heften irgend etwas zu finden, was auf den Verbleib des Knaben konnte schließen lassen, einen Zettel, einen vergessenen Brief. Alle ihre andern Bemühungen waren umsonst gewesen. Über dem Zusammensitzen der beiden Frauen hing eine Wolke von Traurigkeit. Die Generalin, in einer altmodischen spitzenbesetzten Mantille, mit einem ebenso altmodischen Stoffhütchen auf dem kleinen Kopf, sah vergrämt aus, sie konnte die Flucht des Enkels noch immer nicht fassen, noch weniger begriff sie, daß er ihr, der er schmeichlerisch seine Zuneigung glauben gemacht, kein Lebenszeichen zukommen ließ. Die Sorge zehrte sie auf. Herr von Andergast sah ihr spitzes kleines Etzelkinn und hörte, wie sie zur Rie sagte: »Verlieren wir den Mut nicht, gute Rie. Ich hab so ein bestimmtes Vertrauen. Das Blöde ist nur, daß ich schon so alt bin. Aber auch das hat seinen Vorteil. Die Menschen, die man liebt, gewöhnen einen durch ihre Abwesenheit nach und nach an den Tod. Es ist ein Training für alte Leute. Es gibt so viel Abwesenheit, und die Welt ist so groß.«
    Herr von Andergast, der des Regenwetters halber Gummischuhe anhatte, ging unhörbar zur Flurtür zurück und schritt, ohne den Mantel abgelegt zu haben, wieder die Stiege hinunter und aus dem Haus. Plötzlich war ihm der Gedanke unerträglich gewesen, die Mutter höflich begrüßen zu sollen, in das elegisch zerfurchte, demütig vorwurfsvolle Gesicht der Rie blicken zu sollen, verurteilt zu sein, vor dem mit Amtspapieren beladenen Schreibtisch zu sitzen, bis es Abend wurde, bis es Nacht wurde, als einzige Gesellschaft das Tintenfaß, die Notizhefte, die Stühle, das Sofa, die gräßlichen Bilder an den Wänden und die vor Schweigsamkeit starrenden Bücher.
    Er schritt rasch aus, bis er an der Dammheide aufs freie Feld kam. Dort war der Wind von doppelter Heftigkeit, der Regen peitschte ihm ins Gesicht, die Wassersträhnen stachen wie Pfeile. Da er ohne Schirm war – er bediente sich grundsätzlich nie eines Schirms –, wurde er über und über naß. Er achtete nicht darauf. Es war eine gänzlich menschenverlassene Gegend, kein Haus, keine Hütte im Umkreis. Immer nach ein paar Dutzend Schritten blieb er stehen, atemschöpfend, die Hutkrempe festhaltend, blickte spähend in die Runde, aber seine Aufmerksamkeit galt nicht der Landschaft, dem Unwetter, dem wirbelnden Laub der Alleebäume, dem niedrig ziehenden verwühlten Gewölk, sie war nach innen gerichtet. Auf seiner Stirn malte sich die Anstrengung intensiver Denkarbeit. Die Brauen zogen sich mit jeder Minute dichter zusammen. Nach und nach schien er von der Umgebung überhaupt nichts mehr zu spüren, schien zu vergessen, wo er war, wo er hinging, und bisweilen sprach er Bruchstücke von Sätzen, abgerissene Überlegungen laut vor sich hin, was so von seiner Art und Gepflogenheit entfernt war, daß sich dabei der Ausdruck des Gesichts veränderte und wie aufgepflügter Boden die starre Kruste verlor.
    2

    Er kann sich nicht darüber

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