Der Fall Maurizius
dunkelblaue Schnüre, und in den finster verengten Augen zeigte sich ein ihnen bis jetzt unbekannt gebliebener Schrecken.
Waremmes Bild, nicht länger abzuweisen, lebt in seiner Erinnerung auf. Er sieht ihn deutlich vor sich. Die kühne Stirn, der schräg in den Raum fixierte Blick, der ausladende Raubfischkiefer, alles von Brutalität förmlich durchschmolzen, der großdimensionierte Kopf mit den kurzen Borstenhaaren, die etwas feiste Gestalt. Dem Widerpart zu halten war ein Kerl von anderm Kaliber nötig als der dünn-nervige Hampelmann Maurizius. Trotzdem sprechen seine Vertrauten von schweren Neurosen, Depressionen und Weinkrämpfen, denen er nicht selten ausgesetzt sei. Man kann es glauben. Dieser Körper, der trotz seiner normalen Maße mächtig wirkt, mag eine Behausung zerstörerischer Funktionen sein wie bei Menschen, die ein ganz anderes Alter gegen die Zeiten hin haben als in der einen Zeit, in der sie leben. Er nennt sein Alter: neunundzwanzig, aber es ist, als wäre das eben bloß Zufall des Geburtsscheins. Wenn er zu reden beginnt, auch bei der gleichgültigsten Phrase, horcht alles auf. Das Zwingende liegt weder in der Stimme noch in der Wahl der Worte, sondern in der Genauigkeit des Ausdrucks, der Überlegenheit der Haltung. Das Auditorium hat das Gefühl: der versteht's, wie wenn es bisher nur Stümper an der Arbeit gesehen und nun einen Meister vor sich hätte. Zwischen ihm und allen übrigen Zeugen ist ein Unterschied wie zwischen armseligen Fragmenten und einem plastischen Ganzen. Sein Auftreten ist derart, daß sich der Vorsitzende sofort sichtlich zusammennimmt und der Verteidiger, der hilflose Dr. Volland, den Anblick einer geplatzten Null bietet. Aussichtslos die Versuche, wie sie da gegen die Belastungs-, dort gegen die Entlastungszeugen gebräuchlich sind, mit spöttischen Bemerkungen, leutseligen Fangfragen, triumphierender Entdeckung von Widersprüchen, die damit entschuldigt werden müssen, daß man »schlecht gehört« und sich »geirrt« habe oder daß der Untersuchungsrichter sich »verhört« oder »geirrt« habe; da bedarf es keiner Ermahnungen, keiner Gedächtnisnachhilfe, keines jener klippenreichen Kreuzverhöre, die schließlich Nähterinnen, Kutscher, Briefträger, auch Leute aus dem höheren Bürgerstand zum Zittern und Straucheln bringen können, hier aber gänzlich fehl am Orte wären, denn Waremme ist so sachlich, so kühl, so nüchtern wie Wasser. Während seiner Vernehmung kann Herr von Andergast nicht umhin, sich zu sagen: Gott sei Dank, daß er nicht auf der Anklagebank sitzt, dem wären wir nicht gewachsen. Der Verhandlungsleiter wird von Frage zu Frage höflicher, respektvoller, im Saal wird es so still, daß das Summen des Ventilators überm Fenster unerträglich störend ist. Jedes Wort ist ja nun entscheidend. Auf die Frage des Vorsitzenden, was seine Meinung über das Verhalten des Angeklagten vor der Verhaftung sei, erwidert Waremme, er glaube der Billigung des Gerichtshofes sicher zu sein, wenn er antworte, eine Meinung zu äußern stehe ihm nicht zu, er habe ausschließlich die Pflicht, Wahrnehmungen mitzuteilen und Tatsachen zu bezeugen. Man nimmt es hin, sonderbarerweise fügt man sich geradezu, obwohl es wie eine Zurechtweisung klingt. Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Geschworene, alle sind ihm gleichsam subordiniert, er selbst wird durch die bloße Gegenwart richterliche Instanz, und so gewinnt seine Aussage das Gewicht eines Urteils. Die Erschütterung in seinen Zügen überträgt sich auf die ganze Versammlung, man begreift, er sträubt sich, den Unglücklichen, der sein Freund war, dem Henker zu überliefern, doch Wissen und Augenschein sind stärker, der Eid ist gebieterischer, so hab ich's gesehen, so und so hat sich's zugetragen, hier steh ich, ich kann nicht anders. Und hinter ihm Leonhart Maurizius, das Gesicht in transparenter Blässe leuchtend, betrachtet ihn mit Augen, die von tödlichem Entsetzen weit werden, springt auf, streckt beschwörend die Hände aus, Waremme wendet sich ihm zu, plötzlich wankt er, Justizsoldaten fangen ihn auf, er verliert das Bewußtsein. Er, nicht Maurizius! Diese Szene macht ungeheuren Eindruck und wirkt wie eine geisterhafte Bekräftigung der Aussage . . .
Herr von Andergast blieb abermals stehen, zog das Taschentuch aus der inneren Rocktasche und wischte sich das Gesicht ab. Das Tuch war im Augenblick zum Auswinden naß. Sein Bart war wie ein Schwamm im Wasser. Die Lider waren geschwollen, er konnte sie nur
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