Der Fall Maurizius
erschließen. Es ist ein so seltsamer, unausgesprochener Trotz zu spüren. Man kann nicht einmal auf eine Verfehlung, einen Ungehorsam hinweisen; es ist nur der Trotz an sich. Er entsinnt sich, daß er an einem Pfingstfeiertag mit dem Zehnjährigen über Land fuhr. Sie sitzen in einem Abteil erster Klasse, Etzel beugt sich aus dem Fenster, Herr von Andergast ersucht ihn, es zu lassen und still auf seinem Platz zu sitzen. Allerdings hat er keinen besonderen Grund zu dem Verbot, es fällt ihm eben ein, er will in Ruhe die Zeitung lesen, er findet es nicht schicklich, daß der Junge fortwährend den Kopf aufgeregt durchs Fenster steckt. Aber als dann Etzel kerzengerade, mit betonter Artigkeit dasitzt, dem Vater gegenüber, schaut er diesem unverwandt ins Gesicht. Und in dem Anschauen, obgleich sich Herr von Andergast die Miene gibt, als beachte er es nicht, ist etwas Aufreizendes: eine forschende Verwunderung, eine heimliche, anstößige Neugier nach der Beschaffenheit des Menschen, der sein Vater ist, sogar ein heimliches Funkeln von Spott in den hellen, kurzsichtig verkniffenen Augen. Eine Sekunde lang verspürt Herr von Andergast siedendheißen Zorn und ist nah daran, den Arm zu heben und den Jungen zu schlagen. Den ganzen Tag über bleibt er wortkarg und unfreundlich, und von Zeit zu Zeit fühlt er wieder den hellen, musternden, heimlichen Blick des Knaben auf sich gerichtet.
All die Heimlichkeit überhaupt in solchem Kind! Es ist immer, als langweile sich Etzel auf der geraden Straße und ergreife jede Gelegenheit, um auszubiegen, um die Ecke zu gehen und dort was Heimliches zu unternehmen. Kommt er dann wieder zum Vorschein, so sieht er aus, als habe er einen Diebstahl verübt und bringe das Gestohlene eilig und schlau in Sicherheit. Es ist ja auch alles Diebstahl: die Erfahrungen, die er sich holt und die nicht überprüft werden können, die Worte und Begriffe, die er aufsammelt, die Bilder, mit denen er unersättlich die Phantasie füllt. Spießgesellen da und dort, jede Tür öffnet sich zur Welt, und jede neue Erkenntnis der Welt ist Befleckung der unschuldigen Seele. Lernen ist entweder Fieber oder Last, Wissen entweder Überhebung oder vordringlicher Zweifel. Einmal hatte Herr von Andergast ein Gespräch mit dem Pfarrer, und der würdige Herr sagte: Der Bub hat einen unbequemen Geist, wahrhaftig, er glaubt nur, was man ihm sonnenklar beweisen kann, und die Nadel im Heuhaufen zu suchen ist erst der rechte Spaß für ihn, mit dem hätte sogar unser Herrgott keinen leichten Stand.
Aber dabei lächelte der geistliche Mann. Wie sie alle lächelten, wenn sie von ihm redeten oder bloß ihn sahen. Auch der von seinem papierenen Metier ausgedörrte Registraturbeamte hatte ein Schmunzeln um die welken Lippen, wenn er seiner ansichtig wurde. Sogar der übellaunige Dr. Malapert lächelte, sooft er ihm im Haus begegnete. Und immer war es ein freundliches, ein aufmunterndes und unerwartet frohes Lächeln, das die Menschen für ihn hatten. Was mochte die Ursache sein? Vermutlich Äußerlichkeiten. Es gibt Knirpse, die sich in einer Art bewegen, als seien sie Riesen. Das wirkt außerordentlich komisch. Er hatte entschieden etwas von einem spitzbübischen Gnom, der den Leuten treuherzig in die Augen blickt, und wenn er bei der Tür draußen ist, ihnen eine Nase dreht. Da kam vor Jahren noch eine alte, bucklige Großtante ins Haus, die pflegte ihn immer unter widrigem Zärtlichkeitsgestöhn abzuschmatzen; wenn sie endlich fertig war, rieb sich Etzel das Gesicht sorgfältig sauber, verbeugte sich gravitätisch vor ihr und sagte trocken: Danke vielmals, Tante Rosalie. War es die Possierlichkeit, das verbindlich-würdevolle Betragen mit dem Untergrund von verübten oder geplanten Schelmenstreichen, das ihm die Sympathien erwarb? Eine natürliche Anmut war ihm zweifellos eigen, eine flinke, liebenswürdige Frechheit; beides hatte er wohl von seiner Mutter, die war als Mädchen ebenfalls so graziös-frech gewesen, so schwer zu fassen. Oder ging die Sache noch ein wenig tiefer, lag das Anziehende in dem, was Herr Dr. Camill Raff in seiner schätzbaren psychologischen Auseinandersetzung »das Maß« genannt hatte; fühlten das die Menschen so genau, daß er das »richtige Maß« für sie hatte, daß er sie sozusagen nicht überforderte und als das, was sie waren, bestehen ließ?
Was es auch sein mochte, das Besondere, das alle an dem Knaben festzustellen sich beeilten, Herr von Andergast hatte seinerseits wenig davon
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