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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Gedanken gehorchten nicht mehr. Es war eine Sekunde, wo er den Wunsch mancher Kinder begriff, krank zu werden, damit sie nicht in die Schule müssen. Wozu hätte es ihm aber dienen sollen, krank zu sein? Was gab es für ihn anderes als die »Schule«? Ja, er konnte sich in sein widerliches Schlafzimmer zurückziehen wie in eine entlegene Höhle, von Zeit zu Zeit würde die widerliche Rie an sein Bett trippeln, und nicht einmal die kleine Violet würde er zu sich rufen können . . .
    3

    Violet Winston war eine junge Kalifornierin, die er vor drei Jahren, nach einem Herrendiner, im Russischen Hof kennengelernt hatte. Sie saß in der Hotelhalle und mühte sich umsonst, einem Kellner irgend etwas begreiflich zu machen. Herr von Andergast leistete Übersetzungshilfe. Sie war erst vor ein paar Tagen von drüben gekommen, wollte auf dem Sternschen Konservatorium studieren, kannte keine Seele in der Stadt, stand ganz allein in der Welt und hatte noch für ein halbes Jahr Geld zum Leben. Sie wurde seine Freundin, und er mietete ihr, sehr weit von seinem Hause, eine bescheidene Wohnung am Pestalozziplatz, wo sie ihn, zwei- bis dreimal im Monat, empfing. Das Verhältnis war von tiefster Heimlichkeit umgeben; dank der rigorosen Vorsicht des Herrn von Andergast war bis jetzt alles Gerede vermieden worden.
    Reizvolle Aufgabe, sich nach dem Charakter eines Mannes, den man kennt, das Bild seiner Geliebten zu konstruieren. In vielen Fällen wird sich das Richtige annähernd treffen lassen, ohne daß man sich zu billig im Gegensätzlichen ergeht oder simple Anziehungen schematisiert. Doch wenn erwogen wird, daß, wie in diesem Fall, die Finsterkeit in einem Menschen nicht erotisch gelöst, nicht einmal seelisch vom andern Teil aufgenommen werden kann und daß eine fortgeschrittene Vereisung nur noch Vorwände des Lebens kennt, seine Wärme nicht mehr, seine Gestalt nur dem Scheine nach, so wird die Wahl, die Herr von Andergast mit der jungen Amerikanerin traf, nicht überraschen. Sie bot ihm nichts, sie war ihm nichts, denn sie hatte nichts zu geben, sie war selber – nichts. Und eben dieses Nichts brauchte er. Geist, Pikanterie, Laune, Bildung, was sollte ihm das bedeuten, da er doch weder Erregung noch Erhöhung suchte, kaum das, was man Zerstreuung nennt, sondern eine Art Ruhegelegenheit, die ihm, wenn das Bedürfnis sich meldete, auch nebenbei erlaubte, als männliches Wesen zu existieren, und die mit Ignoranz und Banalität eher vereinbar war als mit erlesenen Eigenschaften. Er lebte ja seit zehn Jahren ehelos, und er wußte, daß die Wünsche des Körpers sich auf die Dauer nicht ersticken lassen ohne Gefährdung des geistigen Gleichgewichts. Er war ein unverbrauchter Mann. Der ergraute Bart, der kahle Schädel: Merkmale der Jahre, keine inneren des Abstiegs und der Schwäche. Aus einem Geschlecht stammend, dessen Männer und Frauen in strahlender Rüstigkeit achtzig, neunzig Jahre alt geworden waren, besaß er noch die physische Frische derer, die sich niemals einer Ausschweifung schuldig gemacht haben und einen unerschöpften Vorrat von Kräften in sich wissen. Nach der Trennung von Sophia hatte er auf jedes Attachement, auf jede Erwartung in bezug auf Frauen verzichtet. Er schloß derlei Empfindungen einfach aus seinem Leben aus. Aber es war nicht das Prinzip allein, das ihn so handeln ließ. Er hatte eine Erfahrung gemacht, die seinen Stolz fast tödlich verwundet hatte. Die Wunde war noch nicht geheilt, sie konnte niemals heilen. Unmöglich, daran zu denken, ohne daß das Blut in seinem Herzen sich sammelte und aufkochte. Daß sich ein solches Erlebnis in irgendeiner Form wiederholen könnte, der Gedanke bereits genügte, um jegliche Lockung von ihm fernzuhalten. Für ihn gab es in dem Betracht keinen Glauben mehr (in dem Betracht nicht und in anderm nicht). Wer konnte besser als er wissen, was Menschen unter Liebe verstehen, was sie damit vorspiegeln und wie sie in Wahrheit aussieht, die Liebe? Er hätte ein stattliches Wörterbuch der Entartungen, der armseligen Kompromisse und aller kleinen und großen Erbärmlichkeiten verfertigen können, die den Inhalt der dreihundert Arbeitstage seines Jahres ausmachten und in unleidlicher Wiederholung den Inhalt aller andern Tage aller andern Jahre. Ein Buchstabe, ein Register, und das Individuum besteht nur noch aus Vorleben, Leumund, Straffälligkeit. Kommt der Daumenabdruck im Album noch nicht vor, auf ihrer Stirn und in ihren Augen gewahrt man ein nicht minder bezichtigendes

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