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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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die Schläferin sehen konnte, wenn er einen Blick ins Glas warf. Es war eine Situation, die ihm gemäß war. Das Mittelbare war seinem Wesen gemäß. Allmählich schien er jedoch zu vergessen, wo er sich befand, das Kinn senkte sich langsam gegen die Brust hinab, die Augen starrten bohrend, unsäglich finster, unsäglich hart in eine verborgene Tiefe, und so saß er Stunde um Stunde. Es war etwas Ungeheures, das reglose Dasitzen und Starren, die mächtige Figur, der gewaltige Schädel, die steinerne Ruhe des Gesichts. Als er endlich den Kopf wieder emporhob und der Blick in den Spiegel fiel, gewahrte er im Glas nicht sich selbst, nicht die schlafende Violet, sondern er sah . . . Waremme. Das heißt, eine Person, von der er ohne weiteres annahm, daß sie Waremme sei, die aber nur eine vage Ähnlichkeit mit jenem Waremme hatte, den er vor achtzehneinhalb Jahren zuletzt gesehen. Diese Person nun, er gewahrte nur den Oberkörper, der etwas überlebensgroß war, hatte den rechten Arm ausgestreckt, der linke war auf die Hüfte gestützt, und auf der flachen Hand stand Etzel, sehr klein zwar, doch sehr mutig, ja mit einer gewissen Unverschämtheit in den Mienen. Er hielt eine Blendlaterne in der Faust, der Schein der Laterne fiel grell in das Gesicht Waremmes (oder wer der Betreffende eben war) und machte es vollkommen durchleuchtet, als ob Haut und Knochen aus Gelatine bestünden und solcherart das Gehirn bloßgelegt würde, auf welches das Blendlicht hauptsächlich gerichtet war. Die ganze Gehirnmasse mit ihren Kanälen, Buchtungen, Wölbungen, unendlichen Faserungen und Äderungen krampfte sich unter der Wirkung des unwehrbar eindringenden Lichtstrahls fortwährend zusammen wie unter einem Operationsmesser, und da der Strahl, von der nervigen kleinen Faust gelenkt, auf und ab und hin und her fuhr, wie um eine bestimmte Stelle ausfindig zu machen, wurde nach und nach das quallig-ekle, schmerzhaft-zuckende Gebilde in jedem seiner Teile aufs deutlichste wahrnehmbar. Was geschieht mit mir, dachte Herr von Andergast ärgerlich, ich sehe Gespenster, mit offenen Augen Gespenster. Er drückte mit Zeige- und Mittelfinger die Lider zu; als er dann wieder in den Spiegel schaute, sah er das schlafende junge Mädchen, nichts andres, rosig beschienen von der Ampel, lächelnd unter dem Einfluß eines hübschen und sicherlich unbedeutenden Traums.
    Herr von Andergast erhob sich leise und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er setzte sich an den dünnbeinigen, wackligen Schreibtisch, nahm Briefpapier und Umschlag aus einer Mappe, hielt die Feder gegen die Lampe, ehe er zum Schreiben ansetzte, dann schrieb er mit seiner großen Schrift, in gedehnten, vornüber geduckten Buchstaben, deren l und t und f wie windschiefe Telegraphenstangen aussahen: »Liebe Violet, der heutige Abend war leider der letzte, den ich mit Dir verbringen konnte. Die noch offenen Rechnungen werden bezahlt werden, das Monatsgeld von hundertfünfzig Mark läuft bis 1. Juli weiter. Es wünscht Dir ein glückliches Fortkommen auf Deinem Lebensweg W. A.« – Nachdem er das Briefblatt ins Kuvert gesteckt, lehnte er dieses, mit der Aufschrift »An Miß Violet Winston« versehen, an den Sockel der elektrischen Stehlampe, schraubte die Lampe ab, ging, abermals sehr leise, in den käfigartig schmalen Vorraum, schlüpfte in den Mantel, drückte den steifen Hut in die Stirn, trat ins Treppenhaus und ließ langsam die Tür einschnappen. Als er auf der Straße dahinschritt, bemerkte er nach einer Weile erst, daß es zu regnen aufgehört hatte und ein funkelnder Sternhimmel über der Stadt ausgebreitet war.
    5

    Der Diener rapportierte, Peter Paul Maurizius, für elf Uhr vorgeladen, warte im Anmeldezimmer. Dr. Nämlich, Staatsanwalt, raffte seine Dokumente in die Aktentasche und verschwand. Herr von Andergast saß eine Weile, den Kopf in die Hand gestützt, das geöffnete Notizheft vor sich. Er hatte sich klarzumachen, was er von dem Alten erfahren wollte. Er mußte jedes Wort wägen. Es war notwendig, ihn eine Weile mit seinen eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, um ihn dann mit der Frage nach Etzel zu überrumpeln. Bis zu welchem Grad er zu diesem Zweck abzulenken, zu verwirren, auf falsche Fährte zu setzen sei, mußte sich im Verlauf des Gesprächs ergeben. Unerfreulich und quälend, wie die beiden Angelegenheiten auf einmal zu einer einzigen wurden. Unerfreulich und quälend das Vexierspiel: Wo ist Etzel? Verflochten in das fruchtlose Rätselraten um ein bereits der

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