Der Fall Maurizius
Mal. Mögen sie den Faust lesen oder, manche, manchmal, das Vaterunser beten oder mit Sittensprüchen ihre Wände bekleben, wie die frommen Juden ihre heiligen Lehren an die Türpfosten nageln, das wird keinen einzigen von Betrug, Unterschlagung, Meineid, Diebstahl und Vergewaltigung abhalten, wenn sie nur die geringste Aussicht haben, sich der Verantwortung zu entziehen. Es gab, genau besehen, nicht Gute und Böse, Ehrliche und Schwindler, Lämmer und Wölfe, es gab nur Bescholtene und Unbescholtene, Bestrafte und Unbestrafte, das war der ganze Unterschied, und daß sie eins oder das andere waren, beruhte nicht auf einer Eignung oder einem Defekt, sondern auf einem von ihnen nicht beachteten Zufall. Er fragte nicht nach dem Manne und der Frau. Es gab für ihn keinen Herrn Soundso oder Frau Soundso. Er kannte die Stände, die Klassen, die Berufe, die Beschäftigungen, die Gruppen, die Antezedenzien, die sozialen Vernietungen und Brüche, die Bedingungen und Reibungen der Existenzen, die Kräfteverhältnisse, die Ausdrucksmöglichkeiten, alles bis zur spielenden Beherrschung, so daß er ebensogut mit einem Schlosser, einem Bauern, einer Prostituierten in deren Sprache reden konnte wie mit einer Gräfin und einem Minister; von der Person und ihrer Einunddieselbigkeit wußte er nichts und begehrte er nichts zu erfahren. Und so war es ihm gemäß und angenehm, daß Violet Winston ein Weibchen war wie der Weißfisch in einem See ein Exemplar der Gattung, eines unter hunderttausend gleichen, dessen Fang auf einem nicht sonderlich zu beachtenden Zufall beruhte.
Sie war hübsch, freundlich, gutmütig, gefällig und harmlos. Kein böser Atemzug war in ihr. Sie hatte eine weiße Haut, ein weißes, nichtssagendes Gesicht, korngelbe Haare, in deren Verwaschenheit ebenfalls etwas Nichtssagendes lag, kleine, runde, dicke Patschhändchen wie ein Baby und schöne, schlanke Beine. Ihre großen, blauen, dummen Augen erinnerten ihn, wenn ihr Blick auf ihm ruhte, an nichts. Wenn ihre karminrot geschminkten Lippen beim Lächeln die winzigen weißen Zähnchen hervortreten ließen, schienen auch diese an der süßen Nichtigkeit des Gesamtwesens teilnehmen zu wollen. Wenn man sie auseinandergenommen hätte, um nachzusehen, welche Gefühle sie gegen ihren großen düstern Freund in ihrem Innern hegte, so hätte man außer der gewissen animalischen, temperierten Zärtlichkeit einer schutzbedürftigen Kreatur wahrscheinlich nichts weiter gefunden als ein wenig kleine dumme Furcht. Und wegen dieser Furcht bewunderte sie ihn. Ja, sie bewunderte ihn, ungefähr so wie das Weißfischlein den riesigen, gefräßigen Hecht bewundern wird, der es nur deshalb nicht verschluckt, weil er es zu sehr verachtet. Wenn sie auf seinen Knien saß und ihn fassungslos anschmachtete, konnte sie nicht anders, als sich als »poor girl« und »poor little Violet« zu bezeichnen. Es war immer ein kleiner dummer Verwunderungsausbruch über die Ungleichheit der menschlichen Geschöpfe. Die Unterhaltung zwischen ihnen bewegte sich meist auf dem Gebiet der Utensilien. Sie hatte eine Photographie ihrer Vaterstadt Sacramento über dem Bett aufgehängt. Das Bild hing nach der Ansicht des Herrn von Andergast um reichlich drei Zoll zu tief. Das Gespräch darüber dauerte länger als eine Viertelstunde. Sie hatte Blumen gern, verstand sie jedoch nicht zu arrangieren, das gab Gelegenheit zu endlosen Beratungen, etwa darüber, ob man rosa Flieder und rote Nelken zusammen in eine Vase stecken könne. Obwohl adrett in der Kleidung, war sie in ihrem Geschmack ein wenig indianisch, auch hatte sie eine Vorliebe für zu starkes Parfüm. Herr von Andergast belehrte sie, wies sie zurecht, immer wieder, trocken, ernsthaft, geduldig. Ungeduld hätte er einem so lieben, dummen Nichts gegenüber geradezu als Energieverschwendung betrachtet. Sie rechnete ihm ihre Ausgaben vor, und wenn sich ein überflüssiger Posten darunter befand, tadelte er sie sanft, bis in die törichten blauen Augen törichte kleine Tränen schossen, wobei er dann nachsichtig lächelte. Sie hatte viele Fehler, sie war vergeßlich, kokett, naschhaft, ziemlich leichtsinnig, aber es war alles so wenig, sie mitsamt den Fehlern war so wenig und in seiner Wenigkeit so unärgerlich. Weißfischlein. Manchmal setzte sie sich ans Klavier und sang ihre Heimatlieder. Ihr törichtes kleines Stimmchen füllte den Raum wie Zikadengezirp, und mit den törichten, dicken Babyhändchen begleitete sie sich selbst auf dem Pianino. Es war
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