Der Fall Maurizius
das vollkommene Idyll.
4
Der Gang im Sturm über die Felder lag Herrn von Andergast noch in den Gliedern, als er zu Violet kam. Er hatte zu Hause gegessen und sich sorgfältig umgekleidet. Sie beklagte sich schmollend. Sie fühlte sich vernachlässigt, seine Besuche waren in der letzten Zeit immer seltener geworden. In ihrem komischen Deutsch radebrechend, er hatte darauf bestanden, daß sie Deutsch lerne, sagte sie, sie fühle sich verlassen »like a single shoe«. Herr von Andergast beschwichtigte ihren Unwillen so mühelos, wie man ein brennendes Zündholz ausbläst. Sie hatte einen Unglückstag gehabt. Sie hatte ihre goldene Armbanduhr verloren. Sie sagte, sie werde nun nie mehr wissen, wieviel Uhr es sei. »Poor little Violet has lost the time.« Sie werde nachts jede Stunde aufwachen aus Angst, den Tag zu versäumen, und werde warten, bis die abscheuliche große Kirchenglocke schlagen würde. Herr von Andergast machte ein Gesicht, als denke er über ein Schachproblem nach, und sagte, man werde trachten, ihr eine neue Uhr zu kaufen, doch müsse sie ihren Verlust bei der Polizei melden. Er beschrieb ihr den Weg, das Haus, die erforderlichen Formalitäten. Dabei saß sie ihm gegenüber und blickte ihn mit ungemessener Bewunderung an. Sie hatte ihm eine Zigarettensorte gekauft, die er bevorzugte, brachte schnellfüßig die Schachtel, reichte ihm Feuer, zündete selbst eine Zigarette an; darauf sprachen sie friedlich und eingehend über das Aroma, den Preis und daß der Tabak ein wenig zu stark sei. Da Herr von Andergast mehrmals mit der Hand über die Stirn fuhr, bemerkte sie endlich sein ermüdetes Aussehen, und auf ihre besorgte Frage gab er zu, daß er ziemlich heftigen Kopfschmerz habe. Sie riß entsetzt die Augen auf, als ob ihr nie der Gedanke gekommen sei, daß ein so riesiges Wesen krank werden oder sich nur unpäßlich fühlen könne. Mit ängstlicher Vogelstimme schlug sie verschiedene Mittel vor; als er sie alle mild, aber entschieden ablehnte, begann sie zu schelten, und er ließ es sich gefallen. Sie sagte, er müsse sich hinlegen und ausruhen. Er sah es ein und gehorchte. Er legte sich auf das Sofa, sie deckte ihn mit einem großen Schal zu, löschte die Lichter bis auf eine beschirmte Eckenlampe aus und sagte, sie werde ihn allein lassen, werde derweil ins Schlafzimmer gehn und ihn nicht stören. An der Schwelle kehrte sie noch einmal um und strich ihm mit den dicken Fingerchen und einem zärtlichen Miauen über die Schläfen. »You are a naughty boy«, sagte sie, altklug nickend, »you work too much and you think too much. Viel zu viele. Sure.« Er lächelte freundlich. Er akzeptierte ihren mitleidigen Unwillen mit dem Ernst, mit dem man von einem Kind eine Spielmünze annimmt, das es für ein Goldstück erklärt. Lange lag er mit offenen Augen, seltsam gedankenleer, im halbverdunkelten Raum. Wieviel Zeit vergangen war, als er sich erhob, wußte er nicht. Er schaute auf die Uhr, aber so zerstreut, daß er die Stunde nicht mehr wußte, als er den Deckel zugeklappt hatte. Er öffnete leise die Tür zum Nebenzimmer. Violet lag im Bett und schlief. Am unteren Ende des Bettes hing eine rötliche Ampel vom Plafond. Violet hatte eine Vorliebe für Ampelbeleuchtung, und sie schlief nie im Finstern. Sie fürchtete sich vor der Finsternis und war darin keiner Belehrung zugänglich. Herr von Andergast stand neben dem Bett und schaute auf die Schläferin nieder. Da die Natur aus dem schlafenden Antlitz alle geistige Bewegung wegwischt, kehrt es in diesem Zustand völlig zu ihr zurück, und bei der kleinen Violet hatte sie dabei weniger Arbeit als bei jedem andern Menschengeschöpf. Da lag sie denn, ganz Pflanze, von oben ein wenig beglüht durch die sentimentale Ampel, von innen ein wenig durch ihre Jugend und Gesundheit. Manchmal zog ein Ausdruck von Bangigkeit über ihre Züge und machte sie für einige Sekunden um ebenso viele Jahre älter, aber es war nur wie eine kurze Welle, ohne den sichtbaren Anlaß einer Erschütterung des Wassers. Ein Seufzer, die Brust hob sich, dann lag der Körper wieder still. Wie alle an das Bewußtsein als einzige Lebensmacht geketteten Menschen liebte Herr von Andergast nicht den Anblick von Schläfern. Er mußte sogar stets ein leises Grauen überwinden, wenn er ein schlafendes Gesicht sah. Er trat an den Toilettentisch, ließ sich im Armstuhl nieder und blieb so, wartend, mit einer Viertelwendung gegen das Bett. Der Spiegelaufsatz über dem Tisch war so gestellt, daß er
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