Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
Probleme oder kein Interesse daran hatten, sich in die Lichtenberger Ortsgemeinschaft zu integrieren, war Peggy bald bekannt wie ein bunter Hund. Sie war »das Schlüsselkind« vom Marktplatz 8, man sah sie oft allein durch den Ort streifen, was naturgemäß zu unterschiedlichen Interpretationen führte. Aufgeweckt, neugierig und interessiert an allem und jedem sei sie gewesen, habe selbst ihr unbekannte Menschen freundlich mit einem »Hallo«, »Grüß Gott« oder »Ich bin die Peggy« begrüßt. Sagen die einen. Ein armes Kind, den halben Tag lang auf sich allein gestellt, eine Herumtreiberin, die kilometerweit von daheim entfernt mit ihrem City-Roller herumgestreunt sei, sagen die anderen.
Einige Lichtenberger wunderten sich im Nachhinein darüber, dass Susanne Knobloch am 7. Mai so engagiert in den Kneipen des Ortes nach ihrer Tochter suchte. Sie habe sich doch sonst nie darum gekümmert. Die Mutter einer Schulfreundin von Peggy erzählte uns, sie habe sich oft gefragt, warum Peggy noch bis spät in den Abend hinein bei ihnen war, ohne dass ihre Mutter sich um den Verbleib der Kleinen gekümmert hätte. Sie selbst habe in diesen Fällen zum Hörer gegriffen, um nachzufragen, wann Peggy denn nun heimkommen solle. Eine andere Mutter berichtete uns vom Tag der Einschulung. Damals hätten die Eltern der Abc-Schützen gemeinsam auf die Ankunft des Schulbusses gewartet. Alle Kinder hätten im Bus gesessen, nur die Peggy nicht. Susanne Knobloch habe das nicht weiter irritiert. Sie sei völlig ruhig gewesen und habe gesagt, die Peggy würde schon wieder auftauchen.
Viel zu jung sei das Kind für diese Form der Selbständigkeit gewesen, schlicht vernachlässigt, womöglich habe sie es zu Hause einfach nicht ausgehalten, tuscheln die nächsten. Sonst hätte sie ja auch nicht überall im Ort nach »Ersatzeltern« suchen müssen. Sie »wollte sogar mit uns nach Berlin ziehen«, »sie wollte, dass wir sie adoptieren«, »sie hat Opa und Oma zu mir gesagt«, erzählen Menschen, deren Nähe Peggy immer wieder gesucht hat. Es gibt Leute, die behaupten, es sei ja kein Wunder, dass das Mädchen Fremden gegenüber so zutraulich sei – so, wie’s daheim zuginge. Die behaupten, das Kind habe sich selbständig den Wecker stellen, die Kleidung heraussuchen und um etwas zu essen kümmern müssen. Ein Zeuge aus der Nachbarschaft erinnert sich, dass Peggy des Öfteren morgens gegen sieben Uhr erschrocken vor seiner Tür gestanden und nach der Uhrzeit gefragt habe, weil sie dachte, sie hätte verschlafen. Nach Schulschluss sei sie zumeist die Letzte gewesen, die das Gelände verließ, um nach Hause zu trödeln. Was hätte sie dort auch tun sollen, daheim habe ja niemand auf sie gewartet. Nicht einmal ein Mittagessen habe die Mutter für sie vorbereitet, das sich das Kind hätte aufwärmen können. Eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, Annerose Rausch, erzählte uns, dass Peggy hin und wieder bei ihr hereingeschneit sei, weil sie ihren kleinen Hund so gerne mochte. Wenn dann gerade etwas zu essen auf dem Herd stand, habe sie gesagt: »Hm, das riecht aber gut« – und schon war sie zum Bleiben eingeladen. Hunger habe sie immer gehabt, schmunzelt die Nachbarin, am liebsten habe sie »Nudeln mit roter Soße« gemocht. Wenn sie nicht bei ihr gewesen sei, erinnert sich Frau Rausch, sei Peggy ihres Wissens für gewöhnlich zu den Kaisers gegangen. Es gibt aber auch Lichtenberger Bürger, die erzählen, dass die Neunjährige ganze Nachmittage allein in den Wirtshäusern des Ortes verbrachte, vor allem im Gasthof »Zur goldenen Sonne« am Marktplatz. Ausgerechnet in der »Sonne«, wo ein »gewisses Milieu« verkehrte, habe das Kind seine Hausaufgaben erledigt und sei sozusagen Stammgast gewesen. Die Mutter habe das nicht weiter interessiert.
Ein vernachlässigtes Mädchen also? Oder einfach nur eines, das früh selbständig werden musste, wie viele Kinder berufstätiger Eltern? An diesem Punkt scheiden sich die Geister noch heute, wenn man in Lichtenberg Fragen zu Peggy stellt.
Für Susanne Knobloch sind diese kritischen Stimmen nur ein weiterer Beleg dafür, warum sie in diesem Ort kein Bein auf den Boden bringen konnte. »Aus dem Osten«, ein türkischer Lebensgefährte, zwei Kinder von verschiedenen Vätern – das kann ja nichts werden. Sie selbst zeichnet ein anderes Bild von ihrer Tochter. Peggy habe zu Hause immer Notizen hinterlassen, wo sie sei und was sie vorhabe, sie, die Mutter, habe sich voll auf sie verlassen können.
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