Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
Kapitel 1
Lichtenberg, 7. Mai 2001
L ichtenberg ist ein 1200-Seelen-Ort im Frankenwald, gelegen am Fuß einer mittelalterlichen Burgruine. Hinter dem Schlossberg erstreckt sich zunächst das Lohbachtal, dahinter folgt das Höllental, und nur wenige Kilometer entfernt befand sich früher der ehemalige Grenzstreifen zur DDR. Es ist eine eigenartige Gegend, rauh und irgendwie melancholisch. Der Sage nach trieb der Teufel einst sein Unwesen im Höllental. Nur eine Phantasiegeschichte derer, die im Bergbau ihr Glück suchten? Geheimnisvoll wirkt es schon, das tiefe Tal, in dem Lichtenberg liegt, geschnitten aus Basaltstein, gezeichnet von schroffen Felspartien. Die Gegend ist durchzogen von unzähligen Stollen, Höhlen und Schächten. Wanderer lieben die Landschaft und den Ort mit seinem mittelalterlichen Kern. Die farbigen Fassaden, die Häuser mit den Sitzbänken davor, die kleinen Gärten entlang der Mauer mit ihren Blumenmeeren und den Obstbäumen, unter denen hier und da ein verwitterter schmiedeeiserner Gartentisch steht. Lichtenberg – eine Idylle mit kleinen Gässchen und vielen romantischen Ausblicken.
Vierzig Jahre lang schlummerte der Ort im Landkreis Hof eher still am Rande der westlichen Welt vor sich hin. Als sich der Eiserne Vorhang 1989 plötzlich hob, lag der Ort mit einem Mal mittendrin, im Herzen Deutschlands, im Herzen Europas. Ganze Kolonnen ostdeutscher Wagen der Marken Trabant und Wartburg tuckerten über die ehemalige Grenze, Oberfranken war für Sachsen und Thüringer die erste Anlaufstelle – zum Einkaufen oder einfach nur zum Schauen und Staunen. Einige blieben, zogen dauerhaft aus dem Osten hierher, in der Hoffnung, jenseits der einstigen Grenze ihr Glück zu finden. In den Jahren nach der Wiedervereinigung rutschte das einstige »Zonenrandgebiet« im Norden Bayerns indes wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Das änderte sich schlagartig am 7. Mai 2001. An jenem Tag verschwand die neunjährige Peggy Knobloch. In den Wochen und Monaten danach drängten sich in Lichtenberg Reporter und Fernsehteams, republikweit sorgte der Fall für Schlagzeilen. Doch während das Interesse der Medien mit der Zeit nachließ, der kleine Ort in Oberfranken wieder aus dem kollektiven Gedächtnis rutschte, ist der mysteriöse Fall in der Region bis heute Gesprächsthema. Denn seit dem 7. Mai 2001 liegt ein dunkler Schatten über Lichtenberg.
*
Der 7. Mai des Jahres 2001 ist ein Montag. Ein Tag, an dem es nicht richtig hell werden will. Der Nebel hängt tief in den engen Gassen von Lichtenberg, es ist ungewöhnlich kühl. Gegen halb acht verlässt die neunjährige Peggy das blau gestrichene Haus am Marktplatz 8 (kein Platz im eigentlichen Sinne, sondern der Name einer Straße, die vom Henri-Marteau-Platz durch den Ortskern bis zum Schlossberg hinaufführt). Hier lebt sie mit ihrer Mutter Susanne, ihrer dreijährigen Halbschwester Jessica und dem Lebensgefährten der Mutter, Ahmet Yilmaz, in einer Dreizimmerwohnung im Hinterhaus des Anwesens. Wie beinahe jeden Morgen ist ihr erstes Ziel der kleine Lebensmittelladen von Jürgen Langheinrich nur wenige Schritte entfernt. Der Ladenbesitzer ist bereits seit Stunden auf den Beinen. Im Morgengrauen hat er die angelieferten Backwaren in die Auslage gelegt, dann in seiner Wohnung über dem Geschäft gefrühstückt und seine pflegebedürftige Mutter versorgt. »Es war ein komischer Tag«, wird er später aussagen, »so nebelig, so diesig, so ganz anormal für diese Gegend. Es mag zwar jetzt komisch klingen, aber ich bezeichne den Tag mal als unheimlich.«
Kurz nach halb acht betritt Peggy den Laden. Sie ist Langheinrichs erste Kundin. Ein hübsches Mädchen mit mittelblonden Haaren, stahlblauen Augen und leicht abstehenden Ohren. An jenem Morgen entscheidet sie sich für eine Käsestange, eine Caprisonne und zwei Chupa-Chups-Lutscher für insgesamt 3,10 DM. Sie lässt die Summe anschreiben, Mutter oder Stiefvater begleichen die Rechnung für gewöhnlich am Ende der Schulwoche.
Peggy ist spät dran. Sie legt nicht einmal ihren pinkfarbenen McNeill-Schulranzen mit den gelben Reflektorstreifen und den bunten Stofftier-Anhängern ab. Jürgen Langheinrich stopft den Pausensnack rasch in die kleine Außentasche, dann eilt das Mädchen auch schon davon. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie gerannt ist.« Auch davon, dass die Stofftiere am Ranzen, darunter eine Diddl-Maus, deswegen auf und ab gehüpft seien, wird er den Ermittlern später berichten.
Um 7.50 Uhr
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