Der Fall Struensee
ihre Vorstellungen von Moral durchzusetzen.
Nachdem Struensee viele Tage an seiner Verteidigung geschrieben hatte, setzte er das Datum darunter und unterschrieb. Es war eine schwere Arbeit gewesen, denn die Ketten behinderten ihn und in der Zelle war es so düster, dass man die Buchstaben fast nicht sehen konnte. Ihm war klar, dass diese Schrift keine Auswirkung auf das Urteil haben würde. Es war längst gefällt. Aber, dachte er, vielleicht liest es in ferner Zeit ein Mensch, der an meinem Schicksal Anteil nimmt. Es war lange nach Mitternacht. Er konnte nicht einschlafen. Um ihn schwieg die riesige Zitadelle mit ihrem Labyrinth von Gängen, ihren vielen Zellen, in denen Menschen saßen wie er, angstvoll, verzweifelt oder gleichgültig und längst an ihren Kummer gewöhnt.
Es kam ihm so vor, als sei das gewaltige Gebäude mit seinen schweren Mauern, seinen hohlen Wölbungen, eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen, ein großes Hirn, in dessen Mitte er lag und mit dem stierköpfigen Gott des Todes rang. Aber er hatte keinen Ariadnefaden, mit dessen Hilfe er aus dem Labyrinth hinausfinden würde.
Wieder sank er mit seinen Gedanken in seine Kindheit zurück. Er stand an der Saale. Weidenbäume hingen herab und tauchten ihre Zweige in die Wellen. Das war der Fluss seiner Kindheit. Er hatte sich wieder einmal mit seinem Freund David wegschleichen können von den Ermahnungen und Belehrungen der Erwachsenen. Es war Sommer und der Fluss schimmerte verheißungsvoll in der Sonne. Er sprang in das kalte Wasser, die Kühle nahm ihm für einen Augenblick den Atem. Als er in der Mitte des Stromes schwamm, fühlte er sich auf einmal mit allen Elementen verbunden: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Er begann sich aufzulösen. Er war nicht mehr Mensch, sondern ein Teil des Flusses, ein Teil der Natur, ja des gesamten Kosmos. Er drehte sich auf den Rücken und fühlte das Wasser, das ihn trug, weich, nachgiebig und doch mit enormer Kraft. Er hörte auf, eine bestimmte Person zu sein. Er gehörte zu dem Fließen und der großen Symphonie des Lebens.
Struensee wurde in seiner Zelle mit einer tiefen Ruhe erfüllt und die Ketten fielen von ihm ab. Der Fluss trug ihn. Der große Fluss des Lebens. Und der Fluss trug ihn vorbei an den Eindrücken seines gesamten Lebens. Und es war alles gut, so wie es gewesen war. Darüber schlief er ein.
Struensee wusste, dass sein Tod beschlossene Sache war. Seine Feinde mussten ihn aus dem Weg räumen. Nicht weil er gefährlich war, nicht weil die Gefahr bestand, der König könnte ihn begnadigen oder ihm wieder seine Gunst zuwenden, sondern weil die Königinwitwe, Rantzau, Guldberg und die anderen ihre Legitimität nur durch die legale Hinrichtung des Mannes, gegen den sie sich erhoben hatten, herstellen konnten. Ihnen war daran gelegen, durch ein weithin sichtbares Schauspiel grausamen Todes alle möglichen Liberalen, Freigeister und Bauernbefreier abzuschrecken. Es schien Struensee, als ob nicht nur seine Person zur Verantwortung gezogen würde, sondern der Geist seiner Zeit, denn er fühlte sich in Denken, Anschauung und Bestrebung beinahe als eine Personifikation seiner Zeit.
Am nächsten Tag, als er Tinte und Feder noch so dastehen sah, entschloss er sich, einen Brief an Rantzau zu schreiben.
„ Lieber Freund!
J a, ich rede Dich noch immer so an, obwohl Du mich verraten hast. Du hast Dich meinen Feinden angeschlossen und mit ihnen mein Verderben herbeigeführt. Aber ich schreibe Dir nicht, um Dir Vorwürfe zu machen. Offensichtlich ist der Verrat Dir nicht leicht gefallen, denn Du hast versucht, mich zu warnen. Ich habe diese wie auch andere Warnungen nicht ernst genommen, deshalb konnte es so weit kommen. Ich habe geglaubt, dass ich meine Träume von einer gerechteren Welt mit Deiner Hilfe in die Tat umsetzen könnte. Ich war nämlich überzeugt, dass Du in der Bauernfrage die Ansichten Deines hoch angesehenen Vaters voll und ganz teilst.
Deshalb dachte ich, dass Du mich in meinen Bemühungen, die Leibeigenschaft in ganz Dänemark abzuschaffen, unterstützen würdest. Doch mir wurde nach und nach deutlich, dass es Dir nur um die Außenpolitik ging, weil Du noch eine Rechnung mit der Zarin offen hattest, wie Du Dich zu äußern beliebtest. Natürlich war es auch Deine Absicht, die Bevormundung Dänemarks durch Russland zu beenden, doch hegtest Du vorrangig persönliche Absichten. So entwickeltest Du den Plan eines Überraschungsangriffes auf Russland. Der König, der von Jugend an von Kriegsruhm
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