Der falsche Freund
gegenseitig zu stützen. Der Junge ist fast gezwungen, den Arm um das Mädchen zu legen, und als die beiden trotzdem auf dem Eis landen, helfen sie einander auf und lachen über ihr gemeinsames Missgeschick. Hinterher hilft der Junge dem Mädchen beim Ausziehen der Schlittschuhe, deren Schnürsenkel gefroren sind, und sie legt dabei ihren Fuß auf seinen Schoß, weil es auf diese Weise leichter geht. Als sich die Gruppe aufzulösen beginnt, ist es nur normal, dass er das Mädchen nach seiner Telefonnummer fragt.
Zu ihrer eigenen Überraschung zögert sie kurz. Es hat Spaß gemacht, aber kann sie so etwas im Moment überhaupt gebrauchen? Sie betrachtet den Jungen. Seine Augen glänzen von der Kälte, und er lächelt sie erwartungsvoll an. Da fällt es ihr leichter, ihm die Nummer zu geben, auch wenn ich schon die ganze Zeit schreie, dass sie es nicht tun soll. Aber es ist ein stummes Schreien, und das Mädchen bin ja sowieso ich, bloß dass sie noch nicht weiß, was passieren wird – ich aber schon.
Ich frage mich, wie es kommt, dass ich es bereits weiß. Ich weiß, sie werden zweimal miteinander ausgehen – auf einen Drink, ins Kino – und dann, auf ihrem Sofa, wird sie denken: Na ja, warum eigentlich nicht? Und deswegen denke ich, dass gerade mein Wissen um das, was passieren wird, bedeutet, dass ich nichts daran ändern kann, kein noch so kleines Detail. Ich weiß, dass sie noch zweimal miteinander schlafen werden. Oder dreimal? Immer in der Wohnung des Mädchens. Nach dem zweiten Mal entdeckt sie eine fremde Zahnbürste neben ihrer eigenen. Einen Moment lang ist sie ziemlich perplex. Darüber wird sie erst noch nachdenken müssen. Sie wird nicht viel Gelegenheit dazu haben, denn am nächsten Nachmittag wird ihr die Entscheidung abgenommen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt
– wenn das Mädchen nach Hause kommt und die Tür ihrer Wohnung öffnet – wache ich auf.
Nach Wochen grauen Nieselregens endlich wieder ein schöner Herbstnachmittag: ein leuchtend blauer Himmel, der erst jetzt gegen Abend ein wenig von seiner Intensität zu verlieren begann, dazu ein scharfer Wind, der bunte Blätter von den Bäumen wehte. Es war ein langer Tag gewesen, an dem ich die meiste Zeit auf einer Leiter gestanden und eine Zimmerdecke gestrichen hatte. Mein Nacken und mein rechter Arm schmerzten, mein ganzer Körper fühlte sich staubig und verspannt an. An den Handgelenken und im Haar hatte ich weiße Farbspritzer. Ich freute mich auf einen ruhigen Abend allein: ein heißes Bad, ein gemütliches Abendessen im Bademantel vor dem Fernseher. Käsetoast, dachte ich. Kaltes Bier.
Ich öffnete meine Wohnungstür und ging hinein, ließ meine Tasche auf den Boden fallen. In dem Moment sah ich ihn: Brendan saß auf dem Sofa, besser gesagt, er lag, ein Kissen unter den Füßen. Neben ihm auf dem Boden stand eine Tasse Tee, und er las etwas, das er zuklappte, als ich hereinkam.
»Miranda.« Er schwang die Beine von der Couch und stand auf. »So früh habe ich dich gar nicht erwartet.« Mit diesen Worten fasste er mich an den Schultern und küsste mich auf den Mund. »Möchtest du eine Tasse Tee? In der Kanne ist noch welcher. Du siehst ziemlich fertig aus.«
Ich war ratlos, was ich ihn als Erstes fragen sollte. Er wusste doch kaum etwas über meine Arbeit. Was machte er sich da Gedanken, wann ich nach Hause kam? Aber vor allem, was hatte er in meiner Wohnung zu suchen? Er benahm sich, als wäre er bei mir eingezogen.
»Was machst du hier?«
»Ich habe mich selbst reingelassen«, antwortete er. »Mit dem Schlüssel unter dem Blumentopf. Das ist doch in Ordnung, oder? Übrigens hast du Farbe im Haar.«
Ich griff nach dem Buch, das auf dem Sofa lag. Ein altes Schulheft mit einem festen roten Einband. Die Farbe war verblasst, der Rücken zerschlissen. Eins von meinen alten Tagebüchern.
»Das ist persönlich«, sagte ich. »Persönlich!«
»Ich konnte nicht widerstehen«, erklärte er mit seinem spitzbübischen Lächeln. Angesichts meiner wütenden Miene hob er entschuldigend die Hände. »Hab schon verstanden, tut mir Leid, es war nicht richtig. Aber ich möchte alles über dich wissen. Ich wollte bloß herausfinden, wie du warst, bevor ich dich kennen lernte.« Er berührte sanft meinen Kopf, als wollte er die Farbe aus meinem Haar entfernen. Ich trat einen Schritt zurück.
»Das hättest du nicht tun sollen.«
Wieder lächelte er.
»Ich werde es nicht wieder tun«, antwortete er halb scherzhaft, halb entschuldigend. »In
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