Der falsche Freund
meist mit einem verbeulten Lieferwagen herumfuhr, den er sich von irgendjemandem geliehen hatte.
Inzwischen aber hat Onkel Bill – wie ich ihn nie nenne – eine richtige Firma, ein großes Büro, eine lukrative Geschäftsverbindung mit einem Architektenteam und eine lange Warteliste, in die man nur schwer Aufnahme findet.
Als ich eine Minute nach acht im La Table eintraf, war Kerry bereits da. Sie hatte ein Glas Weißwein vor sich stehen und daneben einen Kübel mit der Flasche, sodass ich sofort wusste, dass es sich um irgendeine gute Nachricht handeln musste. Sie schien von innen heraus zu strahlen, ihre Augen leuchteten richtig. Außerdem sah sie völlig verändert aus. Ich selbst trug mein Haar immer ziemlich kurz. Das gefiel mir, und außerdem bot es sich in meinem Fall an, weil meine Haare auf diese Weise nicht in Harz landen oder sich um einen Bohrer wickeln konnten, wenn ich arbeitete. Kerry hingegen war nie der Frauentyp gewesen, der einen bestimmten Look verkörperte; ich kannte sie eigentlich nur mit halblangem Haar und praktischer Kleidung. Jetzt hatte sie sich die Haare ebenfalls kurz schneiden lassen, was ihr sehr gut stand. Fast alles an ihr war anders. Sie war stärker geschminkt als sonst, wodurch ihre großen Augen besser zur Geltung kamen. Außerdem trug sie lauter neue Klamotten – eine dunkle Schlaghose, ein weißes Leinenhemd und eine Weste. Mit einer Weste hatte ich sie noch nie gesehen.
Sie wirkte elfenhaft und irgendwie erwartungsvoll. Als sie mich entdeckte, winkte sie mich an den Tisch und schenkte mir ein Glas Wein ein.
»Cheers!«, sagte sie. »Du hast übrigens Farbe im Haar.«
Am liebsten hätte ich ihr die Antwort gegeben, die mir immer auf der Zunge liegt, wenn ich das zu hören bekomme: dass es ganz normal ist, wenn ich Farbe im Haar habe, weil ich mein halbes Leben mit Streichen verbringe. Aber letztendlich sage ich es nie, und an diesem Abend würde ich es ganz bestimmt nicht sagen. Kerry sah so froh und erwartungsvoll aus. In froher Erwartung. Das konnte nicht sein, oder doch?
»Berufsrisiko«, antwortete ich.
Die Farbe befand sich an meinem Hinterkopf, wo ich sie ohne Spiegel schlecht lokalisieren konnte. Kerry begann in meinem Haar herumzuzupfen. Wir müssen ausgesehen haben wie zwei Schimpansen, die mitten im Lokal ihre Körperpflege betrieben.
Ich weiß selbst nicht, wieso ich sie trotzdem gewähren ließ.
Schließlich sagte sie, die Farbe gehe nicht ab, was ich irgendwie tröstlich fand. Ich nahm einen Schluck Wein.
»Scheint ein nettes Lokal zu sein«, stellte ich fest.
»Ich war letzte Woche schon mal hier«, erklärte Kerry.
»Es ist großartig.«
»Dir geht’s im Moment recht gut, stimmt’s?«
»Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich dich angerufen habe«, antwortete sie.
»Das muss ja keinen bestimmen Grund haben«, log ich.
»Ich habe Neuigkeiten für dich«, fuhr sie fort. »Ziemlich überraschende Neuigkeiten.«
Demnach war sie tatsächlich schwanger. Etwas anderes konnte es nicht sein. Was mich allerdings ein wenig erstaunte, war die Tatsache, dass sie Alkohol trank.
»Ich habe einen neuen Freund«, erklärte sie.
»Das freut mich, Kerry. Das ist eine großartige Neuigkeit.«
Ich war noch verwirrter als zuvor. Natürlich freute ich mich für sie, weil ich wusste, dass sie schon längere Zeit keinen Freund mehr gehabt hatte und deswegen bekümmert gewesen war. Meine Eltern hatten sich deswegen auch ein wenig gesorgt, was es für Kerry nicht gerade leichter machte. Trotzdem fand ich es seltsam, dass sie es auf diese förmliche Weise verkündete.
»Das Ganze ist ein bisschen problematisch«, fuhr sie fort.
»Deswegen wollte ich zuerst mit dir darüber sprechen.«
»Was könnte daran problematisch sein?«
»Du hast Recht«, pflichtete sie mir sofort bereitwillig bei.
»Du hast völlig Recht. Das habe ich auch gesagt. Es dürfte eigentlich überhaupt kein Problem sein, wenn wir keines daraus machen.«
Ich nahm noch einen Schluck Wein und zwang mich, geduldig zu sein. Das war eine weitere Eigenart von Kerry: Sie konnte so unkommunikativ sein, dass sie kein Wort von sich gab, aber auch ins andere Extrem verfallen und unzusammenhängendes Zeug vor sich hin plappern.
»Was für ein Problem?«
»Es ist jemand, den du kennst.«
»Wirklich?«
»Eigentlich sogar mehr als das. Du warst mal mit ihm zusammen. Es ist ein Exfreund von dir.«
Ich gab ihr darauf keine Antwort, weil meine Gedanken zu rasen begannen. Wer konnte das sein? Lucas und
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