Der falsche Graf
er sich leicht benebelt, aber die brüllenden Kopfschmerzen waren nahezu verschwunden.
***
Miene fand keinen Schlaf mehr. Sie war sich jetzt sicher, dass der falsche Graf mit der Entführung zu tun hatte. Aber so lange sie nicht wusste, weshalb er Jennifer Weyrich entführt hatte, konnte sie praktisch nichts weiter tun als ihn zu beobachten und darauf hoffen, dass er sie zu Jennys Versteck führte.
Ein neuer Tag dämmerte herauf. Das Wasser des Bannwaldsees hatte die Farbe von kaltem Porridge. Ein Windchen kräuselte die Oberfläche. In der Kaffeeküche klapperte die Frühschicht mit dem Geschirr. Mit einem Seufzer trat Miene vom Fenster weg und wollte in ihr Zimmer gehen, aber eine Bewegung am Ufer ließ sie innehalten. Zwischen dem hohen Schilfgras bewegte sich doch etwas?
Sie zögerte nicht lange. Rasch schlüpfte sie in ihre Puschen und eilte über die Privatterrasse in den Park. Sie erreichte das Ufer gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie Kyrsti Allison in ein Boot sprang. Gerry, hob die Paddel auf, die im Gras lagen, aber als er sich aufrichtete und Tante Miene vor sich sah, ließ er die Riemen erschrocken wieder fallen.
"Was macht ihr hier?" Tante Miene sah zwischen den beiden jungen Leuten hin und her. Sie waren fast noch Kinder, Kyrsti schätzte die alte Dame auf höchsten siebzehn Jahre. Das Mädchen hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr langes Haar wirkte stumpf, genau wie ihr Blick mit dem sie Miene anstarrte.
"Sie machen sie fertig." In Gerrys Ton schwang echte Verzweiflung. "Sehen Sie sie an. Sie sieht aus wie ein Zombie, aber die wollen, dass sie immer noch mehr abnimmt, bloß um für irgend so eine Teenymode zu werben. Ich bringe sie weg, irgendwohin, wo die sie nicht finden und wo sie zur Ruhe kommt."
Tante Miene sah zu dem Mädchen, das im Boot kauerte. Es sah wirklich erbärmlich aus. "Wohin bringst du sie?"
Gerry holte tief Luft. "Wir wollen nach Norden. Mein Onkel hat da ein Haus, direkt am Deich. Er ist Arzt, er wird sich um sie kümmern, ehrlich. Meine Leute wissen Bescheid."
"Und was ist mit deinen Eltern?" Miene sah zu Kyrsti, die müde den Kopf schüttelte.
"Verraten Sie uns nicht, bitte." Große, dunkle Augen sahen Miene flehend an.
"Lydia Pallmann ist ihre Mutter", Gerry flüsterte die Worte. "Aber die hat bloß das Geld im Kopf, das sie mit Kyrsti verdienen kann. Sie hat sie von klein auf systematisch auf diese Karriere getrimmt."
Miene nickte bedächtig. "Macht, dass ihr fortkommt", befahl sie, bewusst herb, um ihre Rührung zu verbergen. "Und passt auf, dass man euch nicht erwischt. Und wenn ihrs geschafft habt, dann könnt ihr mir ja mal schreiben, wie es euch geht."
"Machen wir, versprochen, ehrlich." Gerry hob die Paddel auf und sprang ins Boot. "Tschau!"
"Tschüs." Tante Miene wartete, bis der Junge das Boot vom Ufer abgestoßen hatte. Lautlos glitt es davon, das dichte Buschwerk als Deckung nutzend. Dann tauchte Gerry die Paddel ein und trieb das Boot vorwärts. Als es vom aufsteigenden Morgennebel aufgesogen wurde, drehte sich Miene um und kehrte ins Schloss zurück. Sie würde ihren Lieben ein ausgiebiges Frühstück zubereiten.
***
Gegen sieben Uhr erschien Lydia Pallmann an der Rezeption. Diesmal ohne schickes Chanel-Kostüm, in Leggins und einem eilig übergeworfenen Pelzmäntelchen, das so gar nicht zu dem hellen Sommermorgen passen wollte. Sie ließ Karolina keine Zeit, irgendwelche Fragen zu stellen, sondern verlangte lautstark, dass man das gesamte Hotelpersonal ausschwärmen lassen müsste, um nach ihrem Schützling Kyrsti Allison zu suchen. Nicht ganz ohne Schadenfreude sah Tante Miene mit an, wie Lydia rasant auf einen hysterischen Anfall zusteuerte.
"Wenn Sie nicht sofort dafür sorgen, dass Kyrsti gefunden wird, verklage ich das gesamte Hotel", kreischte sie gerade. "Ist Ihnen überhaupt klar, wie viel Geld uns verloren geht, wenn Kyrsti heute nicht zu diesem Fototermin erscheint?"
Und das sollte nun eine Mutter sein! Nicht die Sorge um Leben und Gesundheit der Tochter trieben Lydia an, sondern die Angst, dass ihr ein lukratives Geschäft durch die Lappen ging. Nein, eine solche Frau hatte kein Kind verdient. Vollends überzeugt richtig gehandelt zu haben, setzte Tante Miene ihren Weg fort, um Ottokar Schmittchen aufzusuchen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
***
Klaus-Peter erschien im Speisesaal als Simon und Conny ihr Frühstück schon beinahe beendet hatten. Mit einem aalglatten Lächeln trat er an ihren Tisch und erkundigte sich
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