Der falsche Graf
mit aufgelöstem Haar an den Tisch kam. Wortlos reichte Conny ihm den Brief. Er nahm ihn, sie konnte sehen wie sich seine Miene veränderte während er las. Das anfängliche Erstaunen wechselte zu Ungläubigkeit und schließlich zu fassungsloser Bestürzung.
"Wann ist das gekommen?", war seine erste Frage, nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte.
"Jemand hat den Brief unter meiner Tür durchgeschoben."
Simon nickte, in Gedanken versunken. Es dauerte eine Weile, ehe er seine nächste Frage stellte. "Was meint der Schreiber mit der Bemerkung 'Dann geben Sie uns, was uns gehört?"
Conny hob ratlos die Schultern. "Ich weiß es nicht." Sie sah auf die Zeilen in Simons Hand. "Ehrlich, ich habe keine Ahnung."
"Mhmm." Wieder verfiel Simon in grüblerisches Schweigen. Schließlich richtete er sich auf und holte tief Luft. "Wir müssen erst mal herausfinden, ob deine Schwester eventuell zwischenzeitlich hier gewesen ist. Und dann..." Simon nagte an seiner Unterlippe. "Vielleicht kann uns Frau Pahlke helfen?"
"Frau Pahlke?" Conny starrte ihn verständnislos an.
Simon nickte. "Einer der Kellner hat mir erzählt, dass die alte Dame schon ein paar Kriminalfälle gelöst hat. Vielleicht weiß sie einen Rat oder kann uns sagen, wie wir uns verhalten sollen."
"Also, gut." Conny wandte sich zum Gehen. Jetzt machte sie sich bittere Vorwürfe, dass sie ihrer Schwester mehr als einmal die Pest an den Hals gewünscht hatte. Wer weiß, wo die arme Jenny jetzt steckte und was die Kerle, die sie entführt hatten, mit ihr anstellten. Bilder von tausend und einer Grausamkeiten stürmten in ihr Hirn. Tapfer versuchte sie, sie zu vertreiben und an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel daran, wie sie Jenny helfen konnte.
Die Dame am Empfang zeigte sich hilfsbereit. Sie fragte einige der Kellner und Zimmermädchen, die im Teilschichtdienst arbeiteten, aber niemand hatte Jenny gesehen. Jetzt blieb tatsächlich nur eine Hoffnung: Tante Miene. Die alte Dame las aufmerksam den Brief und lauschte dem Bericht der beiden jungen Leute.
"Nun, wie dem auch sei", hob sie an, nachdem das Paar zum Ende gekommen war. "Ich denke, wir sollten trotz der Warnung die Polizei einschalten."
"Auf gar keinen Fall!" Entsetzt hob Conny die Hände. "Ich glaube dem Schreiber. Diese Leute werden keine Sekunde zögern, Jenny etwas anzutun, wenn ich mich nicht an die Anweisungen halte."
"Was besitzen Sie denn, was diese Leute so unbedingt haben wollen?"
Conny schüttelte den Kopf. "Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach, aber ich weiß es nicht." Sie sah zu Simon, der aufrecht in seinem Sessel saß. "Vielleicht verwechseln sie mich ja?"
Tante Miene wiegte bedächtig den Kopf. "Das glaube ich nicht." Sie erhob sich und trat an das große Fenster. Inzwischen war es dunkel geworden. Die Laternen im Park brannten und warfen große gelbe Lichtflecken auf die Spazierwege. Von der Terrasse wehten die Klänge eines Tangos herüber. "Sie haben Kontakt zu Herrn von Auerbach-Steinfeldt?"
"Ja." Conny hielt das Stillsitzen nicht mehr aus und erhob sich ebenfalls. Nervös begann sie zwischen Fenster und Tisch hin- und herzuwandern. "Aber wir kennen uns kaum. Ich habe ihn auf der Herfahrt mitgenommen." In knappen Worten berichtete sie, wie sie den Graf kennen gelernt hatte. "Er hat sich uns dann hier mehr oder weniger angeschlossen."
"Frau Weyrich?" Die kindliche Stimme ließ die Anwesenden aufhorchen. Sie waren so in ihre Beratung vertieft gewesen, dass sie nicht auf ihre Umgebung geachtet hatten. Erstaunt sahen sie jetzt auf den etwa dreizehnjährigen Jungen, der erwartungsvoll zwischen ihnen hin und hersah.
"Ja?" Conny trat einen Schritt vor.
Der Junge grinste erleichtert. "Griaß Gott, des is für Ena." Er reichte Conny ein Päckchen. "Soll i Ena geb'n." Er wollte wieder verschwinden, aber Tante Miene bekam ihn am Kragen seines karierten Hemdes zu fassen.
"Warte mal", kommandierte sie streng. "Wer hat dir das gegeben?"
"Ja mei, so an oalda Mo halt, mit'm Bart." Seine Blicke huschten misstrauisch zwischen den Erwachsenen hin und her. "I hab den ned 'kennt. War koana vo do."
"Und wo hat er dir das Päckchen gebeben?", forschte Miene weiter.
"Unten, im Dorf." Der Junge hob die Schultern. "I bi do halt so g'sessen und do is er kemma und hot mi g'froagt, ob i a Besorgung für eam macha tät. Müsst' aber no heit san. I hob g'fragt, was für mi nausspringt, da hot er mir an Fünfer in'd Hand druckt und i hob's Packerl g'nommen."
"Wie alt war der Mann –
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