Der falsche Graf
Zeit für ihn, sich um seine Gesundheit zu kümmern, sonst würde er morgen durch die Gegend humpeln wie Dustin Hoffman in 'Asphaltcowboy'. Inge und Kurt Hoffmann, die gerade aus dem Lesesaal kamen, sahen Simon unter gerunzelten Brauen hinterher.
"Ich finde es ziemlich unpassend, ausgerechnet einen Behinderten in einem Wellnesshotel aufzunehmen", verkündete Inge, gerade so laut, dass es jeder im näheren Umkreis hören musste.
"Dicke Leute sind das erst recht", tönte es ihr aus einem Sessel am Fenster entgegen. Die Skatspieler grinsten breitmündig zu ihr herüber, worauf Inge ihre 100-Kilo-Figur straffte und raschelnd davon eilte. Ihr Mann folgte ihr mit gesenktem Kopf.
Der alten Dame, die gerade das Foyer betreten hatte, waren die letzten Worte der raschelnden Inge und die Antwort des Skatspielers nicht entgangen. Sie bedankte sich bei dem Mann mit einem strahlenden Lächeln, das mit derselben Freundlichkeit erwidert wurde. Hermine Pahlke, die gute Seele des Schlosshotels, konnte die Hoffmanns von jeher nicht ausstehen. Das Paar kam seit Jahren regelmäßig im Juli nach Füssen, um sich hier - wie sie sagten – von der verrückten Welt zu erholen. Ihrer Meinung nach war Bayern das einzige Bundesland in dem noch Recht und Ordnung herrschten. Eine Reklame, die aus den Mündern dieses Paares eher als Antiwerbung anzusehen war.
"Die beiden haben doch sonst nichts womit sie ihr Leben ausfüllen können", versuchte Daniela von Kronberg ihre Tante zu besänftigen, wenn sich Miene mal wieder über die Hoffmanns geärgert hatte. "Schau, sie haben keine Kinder, keine Freunde, nicht mal ein Haustier, das sie vermisst. Da wird man wunderlich."
"Die beiden sind nicht wunderlich, sie sind unmöglich", lautete Tante Mienes Antwort, die sie regelmäßig darauf gab. So auch heute, nachdem sie ihrer Nichte erregt von dem kleinen Vorfall im Foyer erzählt hatte. "Ich frage mich, wieso ihr sie noch aufnehmt. Solche Leute schaden dem Ansehen des Hotels."
Daniela von Kronberg lächelte nachsichtig.
"Sie essen ja nicht mit den Fingern und werfen die Hähnchenknochen hinter sich." Sie beugte sich vor und gab der Tante einen Kuss auf die sanft gepuderte Wange. "Vergiss die Geschichte am besten. Erzähle mir lieber, was ihr heute angestellt habt. Hattet ihr einen schönen Tag?"
"Oh, ja!" Tante Mienes Augen begannen zu strahlen. "Es war sogar ein sehr, sehr schöner Tag. Herr Schmittchen ist mit mir nach Garmisch gefahren." Hier konnte Daniela von Kronberg ein belustigtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Obwohl die Freundschaft zwischen Ottokar Schmittchen und Tante Hermine inzwischen seit drei Jahren bestand und die beiden längst per Du waren, sprach Miene zu Dritten immer noch von 'Herrn Schmittchen'. "Wir sind ein Stück in der Höllentalklamm gewandert und anschließend haben wir Garmisch und Partenkirchen besichtigt. Du weißt ja, ich bin immer wieder gerne dort."
Das war Daniela durchaus bekannt. Ihre Tante lebte seit über zehn Jahren in Bayern. Am Anfang hatte Daniela leise Befürchtungen gehegt, dass sich Hermine als echtes Nordlicht hier nicht wohlfühlen könnte. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Wenn Miene aus irgendeinem Grunde mal für ein paar Tage in ihre alte Heimatstadt Hamburg zurückkehren musste, wurde sie regelmäßig von solcher Sehnsucht nach den Bergen gepackt, dass sie ihre Besuche stets vorzeitig abbrach und mit fliegenden Fahnen ins Schlosshotel zurückkehrte.
Die Liebe zu Garmisch Partenkirchen bestand seit Mienes Ankunft in Bayern. Daniela war damals gleich am zweiten Tag mit ihr zu einer Besichtigungstour aufgebrochen und als Miene die herrlichen Lüftlmalereien, die vielen Schnitzwerkstätten und die verschneiten Wände der Zugspitze gesehen hatte, war es um sie geschehen gewesen. Die Städte hatten sie derart fasziniert, dass sie nicht mehr davon loskam und wann immer es ihre Zeit zuließ dorthin fahren musste. Ihr Freund Ottokar teilte diese Leidenschaft. Inzwischen besuchten die beiden mindestens einmal im Monat ihre Lieblingsstädte und krönten diese Visiten regelmäßig mit einem Stück Torte und einer Tasse Schokolade im Café "Krönner".
Daniela gönnte den beiden diese Freuden. Sie hatten alle zwei ein anstrengendes, arbeits- und entbehrungsreiches Leben hinter sich. Ottokar hatte über 40 Jahre als Schlosser in einer Fabrik geschuftet. Er war nur dreimal so ernsthaft erkrankt, dass er nicht zur Arbeit gehen konnte. Ansonsten hatte er jeden Morgen pünktlich an seiner Drehbank
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