Der falsche Graf
gestanden.
Als junges Mädchen hatte Tante Miene davon geträumt, zur Kriminalpolizei zu gehen. Ein Plan, den die Eltern als Hirngespinst abgetan hatten. Eine Frau bei der Polizei, das war zu den damaligen Zeiten noch undenkbar gewesen. Und da sie glaubten, dass ihre Hermine sowieso bald heiraten und Kinder bekommen würde, hatten sie sie ohne groß zu fragen von der Schule genommen und in eine Lehre als Verkäuferin gesteckt. Bis zu ihrem dreiundfünfzigsten Lebensjahr hatte Miene im Kaufhaus "Schneider und Tögel" in der Abteilung für Damenoberbekleidung ihre Frau gestanden. Dann war der alte Schneider gestorben, Herr Tögel hatte seine Anteile an Schneider Junior verkauft und der hatte mit beiden Händen die Chance ergriffen, den Laden endlich von Grund auf neu zu gestalten. Dass das gesamte Kaufhaus umgebaut und nach modernsten verkaufspsychologischen Erkenntnissen eingerichtet wurde, hatte allen Angestellten gefallen. Dass er danach alle Verkäufer und Verkäuferinnen über fünfundvierzig entließ, weil sie nicht mehr zu dem jugendlich toughen Design passten, war dagegen für die meisten der über zweihundert Angestellten eine Katastrophe. Tante Miene hatte sich schon den Rest ihres Lebens auf einem schmucklosen Arbeitsamtflur verbringen sehen, als sie der Hilferuf ihrer Nichte Daniela von Kronberg erreichte.
Die langjährige Haushaltshilfe Elsa Stettin, die sich auch um die Versorgung des damals zwölfjährigen Marcus von Kronberg kümmerte, hatte völlig überraschend gekündigt weil ihre Schwester in Kanada dringend ihrer Hilfe bedurfte. Daniela und ihr Mann standen vor einem großen Problem, denn sie mussten sich ja um das Hotel kümmern. Wer sollte jetzt den Haushalt führen und Marcus versorgen?
Tante Miene war sofort bereit gewesen helfend einzugreifen. Sie hatte versprochen die Familie so lange zu betreuen bis Elsa zurückkehrte, aber deren Schwester starb ein halbes Jahr später und hinterließ drei kleine Kinder, die Elsa nun behüten musste. So blieb die Perle im fernen Kanada und Tante Miene in Füssen. Hier konnte sie auch endlich ihrem Hobby nachgehen, dem Lesen von Krimis und Lösen von Kriminalfällen. Das Tantchen verschlang ganze Berge von spannenden Romanen. Wann immer es ihre Zeit zuließ sah man sie auf der Terrasse oder im Park sitzen und in ein Buch vertieft.
Was das Lösen von Kriminalfällen anging war sie schon mehrfach erfolgreich gewesen. Und dabei hatte es sich keineswegs um bloße Hühnerdiebereien gehandelt. So war Tante Miene beispielsweise vor zwei Jahren einem Fall dreister Erbschleicherei auf die Spur gekommen und im vergangenen Jahr hatte sie einen lange gesuchten Scheckkartenbetrüger entlarvt. Kommissar Franz Steinbichler von der Füssener Kriminalpolizei sah Tantchens Aktivitäten allerdings nicht so gerne. Aber seine gelegentlichen Knötteleien hielten die Gute nicht von ihrer Passion ab. Da war Miene wie ein Schnauzer, der einmal die Witterung einer Ratte aufgenommen hatte. Sie verfolgte den Verdächtigen so lange, bis sie ihn hatte, basta.
Daniela hoffte dagegen inständig, dass die Region bis auf Weiteres von Dieben, Räubern und anderen Übeltätern verschont bleiben würde, denn sie stand jedes Mal tausend Ängste aus, wenn ihre Tante wieder ihrer Leidenschaft nachging. Außerdem kochte Tante Miene immer Hamburger Labskaus, wenn sie eine Fährte aufgenommen hatte. Das Ekligste, was man einem Menschen vorsetzen konnte, fand Daniela. Allein dieser Matsch aus Kartoffelbrei, Fisch, Gurken und anderen Zutaten war Grund genug, Tante Mienes Hobby zu fürchten.
"So, genug geklönt, mein Kind, ich kümmere mich jetzt um euer Abendessen", verkündete sie gerade unternehmungslustig. "Ich habe in dem neuen Buch von Elisabeth George ein tolles Rezept gefunden, das ich unbedingt ausprobieren muss. Die Zutaten habe ich in Garmisch besorgt."
"Ein Rezept aus einem Krimi?" Daniela von Kronberg runzelte skeptisch die Stirn, was Tante Miene zu einem belustigten Schmunzeln veranlasste.
"Die Protagonisten haben es überlebt. Vertrau mir, meine Kleine."
Sie drehte sich um und verließ energischen Schrittes das elegante Wohnzimmer.
5. Kapitel
Das Taxi stand mit aufgeklappter Motorhaube auf dem Standstreifen, das jeansblaue Hinterteil des Chauffeurs ragte darunter hervor. Daneben stand ein elegant gekleideter Herr, der verzweifelt winkte. Ohne lange über ihr Tun nachzudenken setzte Conny den Blinker und fuhr auf die Standspur. Im Rückspiegel sah sie wie der elegante Herr kurz
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