Der falsche Mann
Dezember stürzten wie die Aasgeier, hatten sich Toms Geschichte angenommen. In den Nachrichten des Kabelprogramms und sogar bei 60 Minutes wurde ausführlich über ihn berichtet. Tom selbst hatte einen Platz in einer Privatklinik zugesagt bekommen, in der ihm endlich die Pflege zuteilwürde, die er seit seiner Rückkehr aus dem Irak so dringend benötigte. Wir hofften, dass er danach schon bald wieder ambulant behandelt werden konnte, sodass er nicht den Rest seines Lebens in einer Einrichtung verbringen müsste. Aber im Moment war vor allem wichtig, dass sich für diesen Mann endlich wieder bessere Zeiten am Horizont abzeichneten.
Zusammen fuhren wir mit dem Aufzug nach unten in die Lobby. Deidre würde Tom jetzt zur Klinik bringen, und ich würde mich auf den Weg zurück in die Kanzlei machen.
Deidre war schon den ganzen Morgen nah am Wasser gebaut. Offensichtlich tat sie sich schwer mit Abschieden. Da es mir ähnlich ging, hatten wir uns bereits für die folgende Woche in Toms Klinik zum Mittagessen verabredet. Es war also kein endgültiger Abschied. Nur ein ganz kleiner, bis nächste Woche.
» Tja, wir haben es geschafft«, sagte ich und klatschte in die Hände. Dann streckte ich Tom die Hand hin. » Lieutenant …«
Tom tat einen Schritt auf mich zu und schlang fest seine Arme um mich. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Solche Gesten waren nicht üblich zwischen uns. Deidre, bei der sich inzwischen alle Schleusen geöffnet hatten, gesellte sich zu uns und machte daraus eine Dreier-Umarmung. Klar, es war eine ziemliche holprige Fahrt gewesen, aber am Ende hatte Tom gegen alle Erwartungen gewonnen.
Schließlich ließ Tom mich los. Er trat zurück, nickte, ohne mich anzublicken, und marschierte davon. Deidre küsste mich auf die Wange und sagte: » Wir sehen uns dann nächste Woche«, bevor sie ihm folgte.
102
Nachdem ich mich von Tom und Tante Deidre verabschiedet hatte, kehrte ich in meine Kanzlei zurück. Ich bewegte mich in letzter Zeit ziemlich langsam und vorsichtig. Am linken Bein hatte ich eine Menge Haut eingebüßt, ebenso am linken Arm. Und mein linkes Knie war schon vorher nicht richtig fit gewesen. Der Arzt im Krankenhaus hatte mir erklärt, eine Operation ließe sich nur vermeiden, wenn ich zwei Monate lang jede übermäßige Belastung des Knies vermied.
Als ich mein Büro betrat, fand ich alle Unterlagen des Falls Stoller in Kartons verpackt vor. Offensichtlich hatte sich unsere Büroassistentin Marie zu ein paar Stunden Arbeit bequemt.
Jemand hatte mir die heutige Ausgabe des Chronicle auf den Schreibtisch gelegt. Gestern hatte die Bundesstaatsanwaltschaft Anklage gegen Stanley Keane und acht weitere Personen erhoben wegen Mordes, schwerer Körperverletzung und einer Menge anderer verbotener Dinge, wie zum Beispiel aktiver Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Manning hatte den Deckmantel von Global Harvest International und Stanley Keanes SK Tool und Supply genutzt, um langsam, aber sicher erstaunliche Mengen von Sprengstoff zu horten. Sie hatten die beiden Laster, die in Richtung Federal und State Building unterwegs gewesen waren, mit je einhundert Säcken Ammoniumnitrat-Dünger und drei Fässern flüssigem Nitromethan ausgerüstet. Jeder Laster war Teil eines Dreierteams. Der Fahrer, der allein im Wagen saß, würde den Laster in das Gebäude fahren. Die anderen Teammitglieder folgten in einem Wagen als Verstärkung. Sobald der Laster in das Gebäude gekracht war – und sofern er dabei nicht bereits explodiert war –, sollten der Fahrer und seine Komplizen in der nächstgelegenen U-Bahn-Station abtauchen, um der Explosion zu entgehen. Allerdings musste der Fahrer zuvor ein Fünf-Minuten-Zündkabel auslösen und dann ein Zwei-Minuten-Kabel, was seine Aufgabe zu einem regelrechten Himmelfahrtskommando machte.
Beim dritten Laster – Mannings Fahrzeug – lag der Fall etwas anders. Dieser war lediglich mit fünfzig Säcken Ammoniumnitrat bestückt, also mit nur halb so viel Sprengstoff, weil sein Ziel kleiner und weniger stabil war – eine Moschee und kein Hochhaus. Außerdem hatte Manning gar nicht vor, die Moschee vollständig zum Einsturz zu bringen. Der Bau sollte lediglich destabilisiert werden, genau wie das Hotel, in dem seine Familie gestorben war. Die Menschen sollten in Panik aus der Moschee rennen, damit er und seine beiden Helfer – Patrick Cahill und Ernie Dwyer – sie einzeln niedermetzeln konnten, auf die gleiche Art, wie es damals die
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