Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
ich.«
»Willst du dann beide übernehmen?«
»Worum geht’s denn?«
»Ein Klavier und ein Flügel.«
Oh, wir sind heute wohl zum Scherzen aufgelegt …
»Okay. Geld kann ja nie schaden.«
»Wo du recht hast, hast du recht«, murmelt Tanja. Sie hält mir die Formulare hin, ich unterschreibe und trete vom Schalter weg. Ich sehe mir den ersten Auftrag an – ein Klavier –, dann den zweiten – ein Flügel.
Mir fehlt die Kraft mich umzudrehen. Mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit grinst Tanja über beide Backen.
Kann es etwas Dämlicheres geben, als in der virtuellen Welt den Möbelpacker zu mimen? Denn es soll bitte niemand glauben, dieser Beruf sei in der Welt der elektronischen Impulse, in der es weder Entfernungen noch Schwerkraft gibt, ausgestorben!
»Leonid!«, ruft Tanja mir nach. »Igor hat sich gerade gemeldet, er hängt hier noch irgendwo rum. Zu zweit werdet ihr es doch schaffen, oder?«
Kann es etwas Dämlicheres geben als eine gezeichnete Wohnung, in die man einen gezeichneten Flügel schleppt? Bei dem es sich um nichts anderes handelt als um ein Musikprogramm, das die Töne eines Flügels imitiert und wie ebendieses Instrument aussieht.
Alles schön und gut, wäre da nicht das Unterbewusstsein. Du musst vergessen, dass du den Flügel nicht in der realen Welt hochhievst, wenn du dir sein gezeichnetes Pendant auf den Rücken packst. Und so lange der Flügel als Gummiattrappe daherkommt und mitten im Zimmer aufgeblasen wird, glaubt niemand an seinen reinen und echten Klang.
Sobald jedoch ein paar Muskelprotze im Overall das Ding vor deinen Augen schnaufend und schweißgebadet durchs Treppenhaus buckeln … Und wie simpel der Avatar des »freundlichen
Arbeiters« auch gestaltet sein mag – Schweißabsonderung imitieren, das kann er.
Mit einem Mal packt mich Wut, dieser bekannte und häufige Gast.
Ich achte nicht länger auf Tanja, sondern gehe zum Parkplatz, schnappe mir meinen Motorroller, werfe einen Blick auf das freundliche, nicht sehr hohe Gebäude mit dem Logo HLD auf dem Schild. HLD – Probleme ade! HLD – und mit der Lieferung ist alles okay! HLD – und Ihre Fracht landet nicht im Schnee!
Dann wollen wir uns mal an die Werbeslogans halten!
Auf dem fröhlich knatternden Motorroller zuckle ich zurück zum Gibson-Prospekt und dann ganz gemütlich in der vierten Spur zur ersten Adresse.
Mit einem Auftrag in der Tasche schrumpft die Entfernung im Handumdrehen. In unserer kleinen Welt, in unserem ruhmreichen Deeptown, ist alles individuell abgestimmt, sogar die Sonne geht für jeden anders auf: Wenn die Angestellten bereits lunchen, bricht für ihren Boss gerade erst der Tag an. Kaum lasse ich die Straße der Deep-Designer hinter mir, bin ich auch schon in der Off-Line-Einbahnstraße. Das ist die Adresse, die auf dem Auftrag steht.
Eine schöne Villa.
Mit einem prachtvollem Garten drumherum. An Steinmauern rankt sich wilder Wein hoch, in einem Springbrunnen steht eine Skulptur, ein nackter Jüngling, der eine Schlange gepackt hält. Aus dem Maul des Tiers schießt der Wasserstrahl hinauf in den Himmel. Was um alles in der Welt soll mir diese Skulptur sagen?! Ich beuge mich vor, um die Tafel am Sockel zu lesen: Gezähmte Tiefe .
Schmerz durchzuckt mich.
Hätte ich den Auftrag doch bloß abgelehnt! Sollen die doch ihren inexistenten Flügel selbst in ihre inexistente Villa schleppen!
Aber in Deeptown gibt es zu viele Arbeitslose, als dass ich mir dergleichen hätte erlauben können.
»Junger Mann!«
Eine Frau kommt mit verführerischem Hüftschwung die Stufen der Veranda herunter und lächelt mich an. Sie begnügt sich mit einem Minimum an Kleidung, ihr Äußeres ist auf Manga getrimmt: zu große Augen und der Körper eines Mädchens.
»Junger Mann, sind Sie der Lastenträger?«
»Ja, junge Frau«, antworte ich mürrisch.
»Sie wollen den Flügel ins Haus bringen?«
Kluges Mädchen.
»Ja.«
»Das Problem ist, dass er nicht geliefert wurde«, erklärt sie, ohne dass ihre Stimme sonderlich traurig klingt. »Angeblich hatten sie zu viele Aufträge. Können Sie vielleicht morgen noch einmal vorbeikommen?«
»Schreiben Sie eine Anforderung, dann kommt jemand. Aber ich …«
»Das tut mir ja so leid! Ehrlich!« Sie ist die Verführung in Person. »Und wie peinlich mir das ist! Aber daran ist allein mein Mann schuld, denn er hat nie Zeit, sich um irgendetwas zu kümmern. Allerdings hat er mich gebeten, Sie für Ihre Mühe zu entlohnen! «
Schweigend halte ich ihr das
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