Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
…
Ich öffne die Tür und trete ein. Meine Laune hebt sich sofort, als ich sehe, dass es noch freie Plätze gibt. In der letzten Zeit ist der Fischerkönig nämlich angesagt, sodass ich meine Besuche hier wohl irgendwann aufgeben werde. Entweder baut die Kneipe aus und verwandelt sich zu einem Schickimicki-Restaurant, oder du musst demnächst einen Tisch bestellen und das Gegröle von Reisegruppen ertragen.
Aber noch entspricht der Fischerkönig genau meinen Wünschen.
Ich wähle den Tisch neben der Tür zur Küche. Die Kellnerin kenne ich nicht, sie eilt aber gleich herbei. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Speisekarte.
»Heute gibt es in Folie gebackene Forelle«, teilt mir die Frau mit. »Die kann ich nur empfehlen!«
Oje. In Folie gebackene Forelle habe ich zwar schon mal gegessen, allerdings vor ziemlich langer Zeit. Da hat sie mir nicht geschmeckt – und das würde heute nicht anders sein.
»Ich nehme gefüllten Hecht«, sage ich.
Den habe ich noch nie gegessen. Aber wahrscheinlich sieht er appetitanregend aus, und meine Fantasie würde sich schon ausdenken, wie er schmeckt.
»Als Vorspeise Fischsuppe«, fahre ich fort, während mein Blick über die Karte wandert, »und ein kleines Fläschchen Wodka. Einfachen, ohne Aroma. Dazu Schwarzbrot.«
»Noch etwas?«
»Einen Tomatensaft.«
Wodka mit Saft hinunterzuspülen ist vulgär. Aber im Moment will ich genau das: vulgär sein.
Ich muss auf mein Essen warten. Natürlich könnten sie mir alles sofort bringen – doch wozu die Illusion zerstören? Als mein Blick durch den Raum schweift, mache ich ein paar bekannte Gesichter aus, andere sehe ich zum ersten Mal. Auf der Bühne sitzt einsam und verlassen ein Gitarrist. Entweder ist seine Band noch nicht vollständig eingetroffen oder er gönnt sich einen Soloauftritt. Ich lausche der leisen Stimme:
Klar, ich hab’s gleich erkannt:
Ein Viertel, auf Leinwand gebannt.
Künstler würd’ich ihn nicht nennen, eher einen Spiegel
Der Zeit und von uns, auch das ein Gütesiegel.
Wie Benzin als Regenbogen auf den Fluss sich legt,
Wie bunte Kreide sich vom schwarzen Asphalt abhebt,
So sind wir, ohne Frage, so sind du und ich.
Auf Preise war er echt nicht scharf,
Auch für Lob bestand kein Bedarf,
Nur konnt’er nicht unterlassen, was er tat,
Er, der bunten Kreide Gott, der bunten Kreide Sklav’.
Wie Benzin als Regenbogen auf den Fluss sich legt,
Wie bunte Kreide sich vom schwarzen Asphalt abhebt,
So sind wir, ein Bild, das beim ersten Regen vergeht.
Klar, Regen und Schnee gibt’s überall,
Und jedes Jahrhundert kommt zu Fall.
Doch freu dich nicht zu früh und spotte nicht all dessen!
Wir leben im Zeitalter der Spiegel, das darfst du nie
vergessen.
Wie Benzin als Regenbogen auf den Fluss sich legt,
Wie bunte Kreide sich vom schwarzen Asphalt abhebt,
So sind wir, ein Bild, das wie Phönix sich aus der Asche
erhebt.
Der Sänger lässt die Gitarre sinken und blickt auf die Gäste. Niemand hat ihm zugehört, die Leute sind zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt. Unsere Blicke kreuzen sich kurz, und ich habe den seltsamen Eindruck, das Lied sei speziell für mich geschrieben worden.
Wie es immer bei einem guten Song der Fall ist.
Als der Sänger aufsteht und die Bühne verlässt, hält er die Gitarre irgendwie merkwürdig oben am Hals. So trägt man sein
Instrument doch nicht. Und trotzdem wirkt die Geste völlig natürlich.
Ich sollte wirklich öfter herkommen. Wir leben im Zeitalter der Spiegel …
»Ist hier noch frei?«
Ich drehe mich um.
Oho.
In Deeptown begegnen dir nur selten alte Leute. Alle wollen jung und schön sein, wenn schon nicht im Leben, dann doch wenigstens in ihren süßen Träumen. Wenn sich jemand für das Äußere eines alten Menschen entscheidet, denkt er sich etwas dabei.
»Hallo, Igel«, begrüße ich ihn und fordere ihn mit einer Geste auf, sich zu setzen.
Igel ist der Spitzname dieses Stammgastes. Ich habe ihn ziemlich lange für ein Programm gehalten, bis ich dann irgendwann selbst mit ihm gesprochen habe: Dieser Mann, der einen großen Teil seines Tages in der Tiefe verbringt, ist echt. Er ist um die sechzig, faltig und korpulent. Sein Gesicht ist ziemlich schwabbelig, aber frisch rasiert. Das graue Haar ist militärisch kurz geschnitten, daher auch sein Spitzname. Er wirkt etwas heruntergekommen, im Großen und Ganzen aber anständig. Das hat er vor allem seiner altmodischen, aber ordentlichen Kleidung zu verdanken. Kurz und gut: Du ekelst dich
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