Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
gebe Gas, der Motor heult auf. Der Besitzer des Lincoln beobachtet mich mit unverhohlener Neugier.
»Willst du dich da etwa …?«, fragt er.
Den Schluss des Satzes kriege ich schon nicht mehr mit.
Eine Spur verbrannten Gummis auf dem Asphalt hinterlassend, schieße ich zwischen den Autos hindurch.
»Richtig so!«, feuert mich jemand an.
Die Dummheiten anderer zu beobachten ist ein Gratisvergnügen im Dauerangebot.
Die Laster kriechen förmlich über die Kreuzung und blockieren den ganzen Verkehr. Obwohl es stinknormale Kamas sind, prangt auf allen Planen: 2T. Alles klar. Da hat eine große Firma einen Eilauftrag bekommen – und statt einen Verlust wegen verspäteter Lieferung einzustecken, zahlen sie lieber für verkehrswidriges Fahrverhalten: Die LKWs krauchen in einem Abstand von nur anderthalb Meter akkurat einer hinter dem anderen her.
Mal sehen, ob ich zwischen ihnen durchflutschen kann.
Die Mittagssonne spiegelt sich in den Scheiben der Laster, ich mache die Gesichter der Fahrer aus, registriere die schwarzen Auspuffe der Dieselmotoren. Die Chance, mich zwischen zwei Kamas hindurchzuschlängeln, ist minimal.
Tiefe, Tiefe, verpiss dich …
Der Austritt aus dem virtuellen Raum in die normale Welt ist immer komisch. Diesmal waren die Unterschiede jedoch minimal, denn der Motorradhelm wich lediglich einem VR-Helm. Und hatte ich eben noch im Sattel gesessen, so hockte ich jetzt mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl.
Allerdings wirkte die Stadt nun nicht länger real. Alles erschien mit einem Mal sehr grob, die Details verschwanden völlig, über den Himmel mit seinem Einheitsblau zogen Schäfchenwolken (die sich einmal pro Tag zu dem Slogan formten: Vergesst nie, wer diesen Himmel erdacht hat und wer ihn euch bezahlt!), die Autos büßten ihre Kratzer, Dreckflecken und Aufkleber ein – eben all das, was meine Fantasie sich für sie ausgedacht hatte.
Aber der Konvoi aus 2T-LKWs war noch da.
Und jetzt würde ich da durchkommen!
Aus den Kopfhörern schallten Stimmen, jemand winkte aus einem Auto heraus und versuchte, mich von meinem Plan abzubringen. Ich fuhrwerkte mit dem Joystick, manövrierte das
Motorrad durch die Laster. Einmal knallte es kurz, wahrscheinlich als mein Hinterrad eine Stoßstange mitnahm. Halb so wild.
Okay, in der Tiefe würde ich dabei eventuell ins Schlingern geraten und stürzen. Aber so reichte eine Bewegung mit dem Joystick, um die Kontrolle über das Motorrad zurückzugewinnen.
Ich hielt hinter der Kreuzung an und sah zurück. Meine Finger glitten von selbst über die Tastatur.
Deep.
Enter.
Eine Sekunde nahm ich vor meinen Augen noch die Displays wahr, spürte ich noch das Polster des Helms. Dann spülte die über die Displays tosende regenbogenfarbene Welle die Realität weg.
Das Deep-Programm startet sich schnell.
Ich stehe an der Kreuzung Gibson-Prospekt Ecke ul. Tschertkow im russischen Viertel Deeptowns. Zwischen den einzelnen Lastern hindurch, die über die Tschertkow Richtung Club White Bear BBC rumpeln, erhasche ich einen Blick auf meine ehemaligen Leidensgenossen, die immer noch im Stau stehen. Viele von ihnen pfeifen, klatschen und bringen auf andere Weise ihre Begeisterung zum Ausdruck.
Auch meine Laune könnte nicht besser sein.
Wie ja auch nicht anders zu erwarten – wenn du gerade einen Nagel mit deinem geliebten Mikroskop eingeschlagen hast.
Ich steige aufs Gaspedal und schieße den Prospekt hinunter. Noch besteht die Chance, nicht allzu spät zu kommen.
Und wer ist eigentlich dieser Gibson?
Meinen Arbeitsplatz erreiche ich mit einer Verspätung von sieben Minuten. Das ist schlecht, bedeutet aber nicht das Aus.
»Leonid, Leonid«, spricht mich der Security-Typ am Eingang in tadelndem Ton an. Ich breite die Arme aus und gebe mir alle Mühe, in dem verspiegelten Visier das ganze Spektrum meiner
Gefühle auszudrücken: Reue, Schuld, Scham, Verlegenheit … »Leg lieber einen Zahn zu!«
Ich stürme den langen Gang hinunter. Unter der Decke baumeln die matten Kugeln der Lampen, die mich in ihrer Trostlosigkeit immer an die Korridore aus meiner fernen Schulzeit erinnern. An den Wänden ziehen sich die Spinde entlang. Über fast jedem leuchtet ein rotes Lämpchen, nur über zweien oder dreien ein grünes. Einer davon ist meiner.
»Hallo«, begrüßt mich Ilja.
Er ist ebenfalls zu spät dran und hantiert gerade am Nachbarspind, um das Schloss aufzuschließen.
»Du arbeitest heute in der Frühschicht?«, erkundige ich mich, während ich rasch
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