Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
weigern, das einzusehen. Sie behängen ihren Avatar mit allerlei Firlefanz, designen ihm ein kompliziertes individuelles Gesicht … Aber gut, jedem das Seine.
Ich schmiege meine Stirn an seine, starre in das verspiegelte Visier des Helms und warte, bis das Programm durchgelaufen ist. Dann stopfe ich den »freundlichen Arbeiter« in den Spind. Gute Nacht, mein Freund, bis morgen!
Und auch ich werde jetzt meinen Feierabend genießen.
Am Schalter sitzt immer noch Tanja. Als sie mich sieht, lächelt sie verlegen, sodass ich zu ihr gehe.
»Tut mir leid, Ljonka.«
»Schon gut, da hab ich halt mal ein bisschen mehr verdient.«
»Dann hast du also tatsächlich … das Piano ganz allein hochgeschleppt? «
»Mhm.«
Sie sieht mich fassungslos an.
»Tanja«, sage ich mit einem Seufzer, »glaubst du etwa, ich wäre ohne Grund Packer geworden? Ich habe sieben Jahre im Möbelgeschäft hinter mir! Was meinst du, was ich da alles durch die Gegend buckeln musste?! Und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich allein ein Piano schleppe! Ciao!«
Jetzt wird sie wahrscheinlich darüber rätseln, wie breit meine realen Schultern sind.
Während ich vom Motorroller wieder aufs Motorrad umsattle, überlege ich, ob ich diese Legende nicht mit allzu heißer Nadel gestrickt habe. Wahrscheinlich sollte ich HLD bald verlassen. Im Übrigen wäre das kein großer Verlust. Nur … nur dass mir all diese dämlichen Jobs für bekloppte Firmen zum Hals raushängen, egal, ob nun als virtueller Gärtner, Plakatekleber, Anstreicher oder Möbelpacker.
Aber was habe ich denn erhofft?
Wenn ich nichts – absolut nichts! – habe, was diese grelle, großzügige Partywelt um mich herum braucht.
10
Seit einiger Zeit betrinke ich mich lieber in der Tiefe , genau wie alle User. Erstens ist das wesentlich gesünder, denn du kriegst bei Bedarf zwar einen Rausch, weil dein Organismus ihn sich dazudenkt, aber deine Leber nimmt keinen Schaden. Zweitens – und das ist entscheidend – ist es viel billiger, schließlich würde niemand für einen gezeichneten Drink genauso viel berappen wie für einen realen. Eine Flasche Baileys kostet in der Tiefe einen halben Dollar, ein vorzüglicher Scotch achtzig Cent. Für russischen Wodka musst du fast einen Dollar hinlegen, aber den kann ich ja auch in der Realität trinken.
Klar, es gibt auch Kellerkneipen, wo alles noch billiger ist. In ihnen bekommst du einen fünfzig Jahre alten Burgunder für ein paar Dollar. Aber wozu? Alle, die wissen, wie ein solcher Wein schmeckt, werden sich nie im Leben in diese Spelunken hinabbequemen. Jemand wie ich würde den Unterschied zu einem moldawischen Cabernet jedoch sowieso nicht schmecken – warum sollte ich ihn dann also trinken?
Deshalb gebe ich einer soliden, anständigen Kneipe wie dem Fischerkönig den Vorzug. Sie ist für drei Dinge berühmt: Die Getränke kann sich jeder leisten, und selbst ein Durchschnittsrusse hat schon mal von ihnen gehört. Die Fischkarte ist ausgezeichnet. Und es gibt Livemusik. Ausländer verirren sich übrigens nur
selten hierher, eine angenehme Dreingabe. Und die wenigen, die trotzdem hier herkommen, leben schon lange in Russland. Sie wissen eine dampfende Fischsuppe, das Bier Otschakowskoje spezialnoje und alten Rock’n’Roll zu schätzen.
Keine Ahnung, wie es anderen geht, aber mir sind diese Kneipen die liebsten. Im realen Leben ebenso wie in der virtuellen Welt. Weder die großen und lauten Restaurants noch die teuren In-Lokale, wo die Touris scharenweise einfallen, mag ich besonders. Von Moskau einmal abgesehen, würde ich in jeder Stadt ein kleines, unauffälliges und unscheinbares Restaurant vorziehen. In Prag das U Fleků , in Berlin das Zur Letzten Instanz , in Paris das Maxim’s . Etwas Gemütliches eben.
Der Fischerkönig liegt ein wenig versteckt am Platz der Freiheit. Solche Plätze gibt es in fast allen Vierteln in Deeptown, nur wurden sie im amerikanischen oder französischen Viertel von mehr oder weniger zwielichtigen Vergnügungseinrichtungen aufgekauft, während sich im russischen dort Büros breitmachen. Aber gut, jeder Kultur das ihre.
Das Schild ist unauffällig und absichtlich primitiv gehalten. In dieser Schlichtheit stecken jedoch wesentlich mehr Kreativität und Talent als in all den bunten Leuchtreklamen über teuren Restaurants. Ein Bilderbogen, in dem karikaturhaft dargestellte Treidler einen Stör von monsterhafter Größe aus dem Fluss ziehen, darunter der geradezu hingeschmierte Name des Restaurants
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