Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
paar Kisten und Aktenschränke. Sonst nichts. Als sie sich umdrehte, fiel ihr ein, dass Weir sich zuvor mittels eines simplen schwarzen Tuchs im Schatten verborgen hatte. Sie sah sich noch einmal und langsamer im Zimmer um und leuchtete alle Ecken aus.
Plötzlich berührte sie etwas am Hals.
Sie keuchte auf, wirbelte herum und riss die Waffe hoch – so dass sie genau die Mitte des verstaubten Spinnennetzes anvisierte, das über ihre Haut gestrichen war.
Zurück auf den Gang.
Noch mehr verschlossene Türen. Noch mehr Sackgassen.
Schritte näherten sich. Ein Mann kam an ihr vorbei, kahlköpfig, Mitte sechzig, in der Uniform eines Justizbeamten und mit dem passenden Dienstausweis. Im Vorbeigehen nickte er ihr zu. Er war größer als Weir, also ließ Amelia ihn nach einem kurzen Blick passieren.
Aber dann überlegte sie sich, dass ein Verwandlungskünstler vielleicht auch irgendwie seine Körpergröße ändern konnte.
Hastig machte sie kehrt.
Der Mann war weg; sie sah nur noch einen leeren Korridor. Oder einen
vermeintlich
leeren Korridor. Erneut dachte sie an das Seidentuch, unter dem der Hexer Swetlana Rasnikowa aufgelauert hatte, und den Spiegel, der Tony Calvert zum Verhängnis geworden war. Voller Anspannung zog Sachs die Waffe und steuerte den Punkt an, an dem der Wärter – der
vermeintliche
Wärter – sich in Luft aufgelöst hatte.
Wo? Wo steckte Weir?
Roland Bell lief die Centre Street entlang und musterte die Gegend vor ihm. Autos, Lastwagen, Hotdog-Verkäufer neben ihren Metallkarren, junge Leute, die trotz des Wochenendes in ihren Anwaltskanzleien oder Investmentbanken gearbeitet hatten, andere ein wenig benebelt von dem vielen Bier am South Street Seaport, Spaziergänger mit Hunden, Einkaufsbummler, Dutzende von Menschen, die an schönen und an grauen Tagen die Straßen von Manhattan bevölkerten, weil die Energie dieser Stadt sie einfach nach draußen zog.
Wo?
Bell verglich das Leben gern mit dem Schießen. Er war am Albemarle-Sund in North Carolina aufgewachsen, wo Waffen kein Fetisch, sondern eine Notwendigkeit waren, und man hatte ihn gelehrt, sie zu respektieren. Manches dabei erforderte Konzentration. Sogar einfache Schüsse – auf eine Zielscheibe, eine Klapper- oder Mokassinschlange, ein Reh – konnten fehlgehen und zur Gefahr werden, falls man dem Ziel nicht genug Aufmerksamkeit schenkte.
Tja, das Leben war genauso. Was auch immer gerade in der »Gruft« vorgehen mochte, Bell wusste, dass er sich gegenwärtig nur auf eine einzige Aufgabe konzentrieren durfte: auf den Schutz von Charles Grady.
Amelia Sachs meldete sich über Funk und berichtete, dass sie jede nur greifbare Person im Justizgebäude überprüfte, egal welchen Alters, welcher Rasse oder Körpergröße. (Sie hatte soeben einen glatzköpfigen Justizbeamten aufgespürt und überprüft, der viel größer als Weir war und völlig anders aussah. Dennoch war ihr irgendetwas an ihm eigenartig vorgekommen. Wie sich herausstellte, hatte er ihren verstorbenen Vater gekannt.) Sie hatte einen Flügel des Untergeschosses hinter sich und würde nun mit dem nächsten anfangen.
Teams unter Leitung von Sellitto und Bo Haumann durchsuchten immer noch die oberen Etagen des Gebäudes, aber der merkwürdigste Neuzugang in den Reihen der Jäger war niemand anders als Andrew Constable persönlich, der durch seine Anhänger Spuren im Gebiet um Canton Falls verfolgen ließ. Das wäre sensationell, dachte Bell – falls der Mann, dem man den Mordversuch zunächst zur Last gelegt hatte, am Ende derjenige sein würde, der den Aufenthaltsort des wirklichen Verdächtigen ausfindig machte.
Bell schaute in die Autos, an denen er vorbeilief, zu den Lastwagen, in die Gassen. Seine Waffen waren schussbereit, aber er hatte sie nicht gezogen. Es schien ihm am sinnvollsten, Grady auf der Straße abzufangen, bevor er das Gebäude betrat – denn hier draußen hatte der Staatsanwalt bessere Überlebenschancen. Bell bezweifelte, dass diese Leute ein hohes Risiko eingingen – das passte nicht zu ihrem Verhaltensprofil. Der Killer würde seinen Schuss abgeben, nachdem Grady den Wagen geparkt hatte und sich unterwegs zum Eingang des schmutzigen Justizgebäudes befand. Und es würde ein simpler Schuss werden – es gab hier praktisch keine Deckung.
Wo steckte Weir?
Und – genauso wichtig – wo steckte
Grady
?
Seine Frau hatte gesagt, er habe das Familienauto genommen, nicht den Dienstwagen. Bell hatte eine Fahndungsmeldung herausgegeben, aber der Volvo
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